Das Verhältnis der Paschtunen und anderer Ethnien zu der Regierung von Karzai

Das verkannte Volk

24.09.2012 – Während die internationalen Medien schweigen, scheint der Krieg in Afghanistan immer mehr an Intensität zu gewinnen. Täglich berichten die afghanischen Medien von landesweiten Angriffen der Aufständischen. Und die Taliban selbst erklärten jüngst ihre diesjährige Frühjahrsoffensive mit dem (Codename FARUQ) zur erfolgreichsten Offensive seit Beginn des Aufstands im Jahre 2003. Die Berichte von Augenzeugen aus den jeweiligen Distrikten scheinen diese Aussage der Aufständischen zu bestätigen.

Die Machtlosigkeit der Nato gegenüber den Taliban einerseits sowie einer korrupten Karzai-Regierung anderseits scheint sich auch auf das Verhältnis der Afghanen zur Nato auszuwirken. Sie glauben nicht an die Versprechungen, dass der Westen sie auch nach dem Truppenabzug 2014 unterstützen wird.

Die Afghanen haben realisiert, dass sich nach 2014 die Machtverhältnisse zugunsten der Aufständischen verschieben werden.

So sagte zum Beispiel jüngst Frau Fatana Gelani, die Präsidentin des Rats für Frauenrechte, bei einer Veranstaltung anlässlich des Todestages von Ahmad Shah Massud: „Ein Frieden in Afghanistan ist nur dann möglich, wenn die Taliban und die Hezb-e-Islami an einer Regierung beteiligt werden“. Gleichzeitig erklärte sie die Bemühungen von Präsident Karzai, mithilfe des „High Peace Councils“ Frieden mit der Opposition zu schließen, für gescheitert.

Darüber hinaus mussten vor Kurzem sowohl der Innen- als auch der Verteidigungsminister ihren Hut nehmen. Seit Monaten wird das afghanische Grenzgebiet zu Pakistan von der pakistanischen Armee mit Raketen beschossen und beide Minister waren nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen. Die Parlamentsabgeordneten warfen beiden Ministern Versagen und Inkompetenz vor und weigerten sich schlichtweg, den Ministern eine weitere Amtszeit zu gewähren. Karzai, der in den vergangenen elf Jahren das Spiel des Taktierens perfektioniert zu haben scheint, schaffte es trotz aller Vorwürfe, ausgerechnet den geschassten Innenminister Bismillah Khan Mohammadi zum neuen Verteidigungsminister zu küren!

Das Verhalten der Abgeordneten verdient den größtmöglichen Respekt und es zeigt sehr deutlich, dass das afghanische Volk nicht mehr gewillt ist, alles mitzumachen.

In Afghanistan ist nach dem Rausch der vergangenen elf Jahre wieder Ernüchterung eingekehrt.

Viele Afghanen glauben nicht, dass die afghanische Armee (ANA – Afghan National Army) sowie die Polizei (ANP – Afghan National Police) in der Lage sein werden, die Sicherheit der Bürger nach 2014 zu gewährleisten, wenn sie nicht mal heute dazu in der Lage sind.

Hinzu kommt die Tatsache, dass die Infiltration der Aufständischen innerhalb der Armee und der Polizei die Nato vor ein großes Desaster stellt. Afghanische Soldaten richten hinterrücks ihre Waffen auf ihre ausländischen Ausbilder und Kameraden und töten sie sowie zuletzt am vergangenen Sontag, als ein afghanischer Polizist vier US-Soldaten erschoss. Die Reaktion der Nato auf dieses Phänomen ist jedoch noch desaströser als das Phänomen selbst. Da die bisherigen Angreifer meistens alle paschtunischer Herkunft waren, entlässt die Nato massenweise Paschtunen aus den Reihen der Sicherheitskräfte. Es sind aber gerade diese Paschtunen, die im Süden und Osten des Landes als erfolgreiche und ortskundige Kämpfer gelten. Anstatt nach einer grundsätzlichen Lösung des Konflikts zu suchen, werden Lösungen auf Kindergarten-Niveau praktiziert.

Die Paschtunen fühlen sich schon seit Beginn des Krieges im Jahre 2001 als benachteiligte Bevölkerungsgruppe, obwohl sie in dem Vielvölkerstaat die Mehrheit bilden.

Als die USA sich im Jahre 2002 an die Bildung einer neuen afghanischen Regierung machten, verließen sie sich ausschließlich auf die Expertise der Funktionäre der ehemaligen Nordallianz. Innerhalb dieser Allianz befanden sich aber auch Personen mit einer starken nationalistischen und gar antipaschtunischen Haltung. Sie diskreditierten die Paschtunen, wo sie nur konnten. Ihrer Meinung nach war jeder Paschtune ein Talab oder zumindest ein Sympathisant der Taliban. In Kabul herrschte in den Jahren 2002 bis 2005 eine spürbare antipaschtunische Atmosphäre. Paschtunen war es teilweise nicht mehr möglich, sich in Kabul in ihrer Muttersprache zu unterhalten, ohne dass sie dafür angefeindet wurden, eben von den Anhängern dieser Allianz. Wer jedoch die Jahrhunderte alte Geschichte Afghanistans kennt, der muss auch wissen, dass es bisher keinem afghanischen Führer gelungen ist, sich ohne die Unterstützung der Paschtunen langfristig in Afghanistan an der Macht zu halten. Unabhängig davon, dass sie als Ethnie diskreditiert wurden, hat man sie auch politisch ausgegrenzt. Westliche Keyplayer glaubten, dass die Paschtunen sich mit einem fragwürdigen paschtunischen Präsidenten namens Karzai zufriedengeben könnten, während alle Schlüsselpositionen mit Vertretern der Nordallianz besetzt wurden. Dieser Umstand führte dazu, dass die Paschtunen sich im Jahre 2004 langsam von Karzai abwandten und Karzai jegliche Legitimität gegenüber den Paschtunen verlor. Dies führte wiederum zu einer immensen und bis heute andauernden Schwächung Karzais!

Dabei war das Verhältnis der Paschtunen zur afghanischen Regierung um Präsident Karzai nicht immer schlecht. Tausende von Stammesangehörigen aus den verschiedensten Stämmen machten sich bereits in den Jahren 2002 und 2003 auf den Weg nach Kabul um Präsident Karzai zu seiner Wahl zu gratulieren und ihm auch ihre Zusammenarbeit und Unterstützung anzubieten. Dabei kam es aber im Jahre 2003 zu einem folgenschweren Vorfall, der das Verhältnis der Paschtunen zu Karzai und der Nato nachhaltig verschlechtern sollte.

Eine circa 70köpfige Delegation, bestehend aus Stammesführern der Provinz Paktia, befand sich auf dem Weg nach Kabul, als sie von der US-Luftwaffe angegriffen wurde. Kein einziger Delegierter überlebte diesen Angriff. Unter den Delegierten befand sich auch eine Abordnung des Haqqani-Clans, welche ebenfalls Präsident Karzai ihre Glückwünsche aussprechen wollte. Dieser Clan ist heute besser bekannt unter dem Namen „Haqqani-Netzwerk“ und gilt als die wichtigste und gefährlichste Fraktion der Taliban. Später gaben die USA bekannt, dass sie von einem afghanischen Informanten die Information erhalten hatten, dass es sich bei dem Konvoi der Delegation ausschließlich um Taliban-Kämpfer handeln würde.

All diese und viele weitere Vorfälle führten zu einer Spaltung zwischen dem Präsidenten und den Paschtunen. Die Paschtunen haben jegliches Vertrauen in die Regierung verloren. Die Übergriffe der US-Luftwaffe auf Hochzeitsgesellschaften sowie die nächtlichen Razzien in paschtunischen Häusern trugen zusätzlich dazu bei, dass das Misstrauen gegenüber der Regierung und dem Westen wuchs.

Die Paschtunen sind aber bei Weitem nicht die einzigen Leid tragenden dieses Konflikts. Auch die Minderheiten in Afghanistan leiden unter der Regierung Karzai. Sowohl die Tadschiken als auch die Hazaras und Usbeken werden landesweit gegen ihren Willen von Kriegsverbrechen und Warlords vertreten. Zia Massud, Mohaqeq oder General Dostum sind nicht von ihren Volksangehörigen legitimiert worden, sie im In- und Ausland zu vertreten. Dennoch werden sie von der Regierung Karzai und auch teilweise vom Westen als die legitimen Vertreter der jeweiligen Ethnien betrachtet und wie Staatsgäste empfangen. Es sind diese selbsternannten Anführer, die weder an Frieden noch Stabilität in Afghanistan interessiert sind, da sie in beiden Faktoren eine Gefahr für sich und ihre Machenschaften sehen.

Afghanistan besteht nicht nur aus Kriegsverbrechern und Warlords, die das Land führen können. Es gibt Tausende von Afghanen in allen Teilen des Landes, die ein sehr hohes Ansehen genießen, über ein sehr hohes Bildungsniveau verfügen und – was für alle Afghanen am wichtigsten ist – kein Blut an den Händen kleben haben! Diesen Menschen muss die Möglichkeit gegeben werden, für ihr Land zu arbeiten. Das wird aber nicht möglich sein, solange korrupte Elemente innerhalb der afghanischen Regierung das Sagen haben.

Um die Situation in Afghanistan grundlegend zu verändern, müssen große Teile der afghanischen Institutionen umstrukturiert werden. Die Afghanen sehnen sich nach „Change“.

Der Westen muss also endlich begreifen, dass es nicht mehr so weiter gehen kann, wie in den vergangenen elf Jahren! Die Afghanen haben Karzai satt! Die Afghanen haben Warlords und Kriegsverbrecher als ihre Anführer satt! Die Afghanen haben Korruption satt! Und folglich haben sie auch das vom Westen importierte System satt!

Eine Übergangsregierung ist die einzige Lösung des Problems.

Wenn der Westen will, dass die gebildeten Schichten der Afghanen Verantwortung übernehmen und bei der Schaffung eines demokratischen und friedlichen Afghanistans mitwirken, dann muss er auch den Willen des afghanischen Volkes respektieren und alle üblen Elemente, welche gewollt oder ungewollt seit 2001 aufgebaut und unterstützt wurden, wieder von der Macht entfernen! Dazu sehen die Afghanen derzeit leider nur den Westen in der Lage.

Eine interne Umfrage innerhalb der afghanischen Stämme und vertrauliche Gespräche mit den wahren Stammesvertretern der afghanischen Minderheiten haben bereits im Jahre 2011 zu dem Ergebnis geführt, dass das Problem in Afghanistan nur durch die Schaffung einer völlig neuen Regierung und einer neuen Verfassung möglich sein kann. Alle an den Gesprächen beteiligten Personen sprachen sich für den Shorish Friedensplan als Basis für die Errichtung einer Übergangsregierung aus.

Die Afghanen sind sehr wohl in der Lage, ihre Interessen in die Welt zu tragen und die Interessen der Weltgemeinschaft in ihr Land zu tragen, aber in den vergangen 30 Jahren wurde das afghanische Volk nie gefragt und stets verkannt!

Maiwand Aka Jan


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