Interview mit dem afghanischen Stammesführer Naqibullah Shorish

Die Gefahr eines Bürgerkrieges ist sehr groß, aber noch ist diese Eskalation des Krieges vermeidbar

Naqibullah Shorish (l.) im Gespräch mit Otmar Steinbicker. Foto: Beate Knappe

02.10.2014 – Mit Aschraf Ghani Ahmadsai hat Afghanistan seit wenigen Tagen einen neuen Präsidenten. aixpaix.de-Herausgeber Otmar Steinbicker sprach mit Naqibullah Shorish über die neue Situation, die Gefahren und möglichen Chancen für Afghanistan.

Naqibullah Shorish ist der nationale Stammesführer der Kharoti, des größten Stammes in Afghanistan. Shorish repräsentiert rund drei Millionen Stammesangehörige, circa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung Afghanistans. Shorish gehörte 2008 zu den Initiatoren der Nationalen Friedensjirga Afghanistans und realisierte 2009/2010 gemeinsam mit Otmar Steinbicker einen geheimen Gesprächskanal zwischen dem ISAF-Oberkommando und der Talibanführung.

aixpaix.de: Nach langem Tauziehen wurde Aschraf Ghani Ahmadsai vor wenigen Tagen als neuer Präsident Afghanistans vereidigt. Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage?

Naqibullah Shorish: Wir haben jetzt in Afghanistan eine merkwürdige Situation. Nach der Wahl stellen der Gewinner Ghani und der Verlierer Abdullah Abdullah gemeinsam die Regierung mit den gleichen Ansprüchen und den gleichen Rechten. Viele Afghanen verstehen jetzt nicht, warum dann die Wahl überhaupt stattgefunden hat, wofür so viele Frauen und Männer mit ihrer Wahlbeteiligung ihr Leben riskiert, ihre Finger verloren haben oder getötet wurden. Da hätten die beiden doch gleich ohne Wahl gemeinsam die Regierung bilden können.

Die Mehrheit der Afghanen wollte durch ihre Teilnahme an der Wahl den korrupten Elementen in der Regierung, den Kriegsverbrechern und Drogenschmugglern die rote Karte zeigen und sie friedlich nach Hause schicken. Jetzt gibt es auf Druck der USA eine gemeinsame Regierung der Gewählten und der Abgewählten.

aixpaix.de: Welche Gefühle löst das bei den afghanischen Wählerinnen und Wählern aus?

Naqibullah Shorish: Da gibt es jetzt viele Fragen. Warum hat die Wahlkommission so viel Geld für diese Wahlen ausgegeben? Warum haben die westlichen Länder mit ihrem Druck auf eine gemeinsame Regierung die afghanische Verfassung missachtet? Es hieß doch immer, die Taliban akzeptieren die Verfassung nicht. Jetzt sehen die Menschen, dass auch US-Botschafter James Cunningham und auch der Sonderbeauftragte der UNO für Afghanistan, Ján Kubiš, die afghanische Verfassung missachten.

Es gibt nämlich in der afghanischen Verfassung neben dem Präsidenten keinen Regierungschef. Aber das spielt keine Rolle für Westen und auch nicht für den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Wie sollen wir Afghanen nach dieser Erfahrung noch den Aussagen dieser ausländischen Politiker glauben, wenn sie sagen, sie würden sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einmischen? Es ist diese dauerhafte Einmischung des Westens, die in Afghanistan und weltweit keine Probleme löst, sondern neue schafft.

aixpaix.de: Die westlichen Politiker vermittelten den Eindruck, mit ihrem Druck auf die Bildung der Einheitsregierung einen Bürgerkrieg zwischen den paschtunischen Anhängern Präsident Ghanis und den Anhängern der Nordallianz Abdullahs verhindern zu wollen. Kann das gelingen?

Naqibullah Shorish: Viele Afghanen glauben nicht, dass die Zwangshochzeit Ghanis und Abdullahs Bestand hat. Als wahrscheinlicher wird angesehen, dass die Regierung nicht länger als sechs Monate im Amt bleibt. Danach werden sich die beiden Flügel gegenseitig bekämpfen, der unterlegene Flügel wird rausgeworfen und dann kommt es zu neuen Problemen.

Allerdings ist es nicht richtig, dass es bei den Differenzen innerhalb der Regierung vereinfacht um eine Auseinandersetzung zwischen Paschtunen und der Nordallianz ginge. So hatte sich der Bruder von Ahmad Schah Massoud im Wahlkampf hinter Ghani gestellt und Ghani wurde im Pandjschir-Tal sowie in ganz Afghanistan mit Mehrheit gewählt, also längst nicht nur von Paschtunen!

aixpaix.de: In einem Bürgerkrieg würden auch die Taliban eine Rolle spielen.

Naqibullah Shorish: Ja, die Taliban haben sich für eine Weiterführung des Krieges entschieden, weil wieder die bekannten korrupten Politiker und die erklärten Feinde der Taliban in der Regierung mitvertreten sind. Die Taliban wollen mit einer solchen Regierung nicht verhandeln.

aixpaix.de: Ist damit die Perspektive eines blutigen Bürgerkrieges unvermeidbar?

Naqibullah Shorish: Die Gefahr eines Bürgerkrieges ist sehr groß, aber noch ist diese Eskalation des Krieges vermeidbar. Alle Afghanen haben unter den letzten 35 Jahren Krieg gelitten und wünschen ein Ende des Krieges. Aber keine der Konfliktparteien hat ein Konzept für ein Ende des Krieges und eine Nachkriegsordnung. Die USA haben kein Rezept, die Taliban auch nicht und ebenso wenig hat die Nordallianz ein solches. Präsident Ghani hat ein ökonomisches Konzept, das während des Wahlkampfes den Afghanen sehr viel Hoffnung gegeben und ihm die Mehrheit der Stimmen gebracht hat. Aber dieses Konzept kann nur dann realisiert werden, wenn es zu einer Friedenslösung kommt. Es wird keine Investitionen geben ohne die nötige Sicherheit im Land. Und es wird keine Sicherheit geben ohne eine Friedenslösung. Wenn Präsident Ghani seine Wahlversprechen halten will, dann muss er mit den Taliban Frieden schließen.

aixpaix.de: Genau das hat Präsident Ghani bei seiner Amtseinführung versprochen. Die Taliban aber haben, wie Sie ja sagen, der neuen Regierung bereits den Krieg erklärt und die Anschläge der letzten Tage zeigen wohl, dass sie es damit ernst meinen.

Naqibullah Shorish: Die Taliban haben ihrerseits das Problem, dass sie überhaupt kein Konzept haben, weder ein ökonomisches, noch ein politisches, noch eines für eine Friedenslösung. Ihre Führung sitzt im pakistanischen Exil und steht unter Druck des pakistanischen Geheimdienstes ISI, Anschläge in Afghanistan auszuüben. Da liegt ein Riesenproblem! Die Taliban müssen sich von dem Druck des ISI lösen können. Das aber kann nur gelingen, wenn ihre Führung wieder nach Afghanistan zurückkehren kann.

aixpaix.de: Kann eine solche Perspektive realistisch sein?

Naqibullah Shorish: Ja, genau diese Perspektive wurde im Sommer 2010 bei Geheimgesprächen zwischen ISAF-Offizieren aus Deutschland, Großbritannien und den USA auf der einen Seite und hohen Talibanführern auf der anderen Seite entwickelt. Damals ging es darum, in der Provinz Jalalabad diese Möglichkeit zu schaffen. Ich hatte diese Gespräche als Vermittler organisiert und an ihnen teilgenommen. Ich erinnere mich noch gut an den Gesprächsverlauf.

aixpaix.de: Aber dieser Vorschlag ist jetzt mehr als vier Jahre alt, bezog sich nur auf eine einzige Provinz und wurde nie realisiert. Kann er heute noch greifen?

Naqibullah Shorish: Durchaus. Ich rechne allerdings derzeit nicht mit westlicher Unterstützung. Das müssen wir Afghanen schon alleine schaffen, aber es ist möglich.

aixpaix.de: Aber wenn die Taliban mit Präsident Ghani ebensowenig reden wollen wie mit seinem Vorgänger Karsai?

Naqibullah Shorish: Auch damals war die Ablehnung der Taliban gegenüber Gesprächen mit der Regierung Karsai nicht so felsenfest, wie es nach außen den Anschein hatte. Damals gab es Hoffnungen bei den Taliban, dass es ausländische Vermittlung für diese schwierigen Gespräche geben könnte. Diese Hoffnung richtete sich vor allem auf die Bundesregierung, allerdings weniger aufgrund der aktuellen Politik als vielmehr aufbauend auf der Erfahrung jahrzehntelanger deutsch-afghanischer Freundschaft. Da gab es auf Seiten der Taliban sehr viel Vorschussvertrauen, das leider in den letzten Jahren enttäuscht wurde.

Heute muss daher ein deutliches Signal von Präsident Ghani ausgehen, damit es zu Gesprächen kommen kann. Sein Vorgänger Karsai hatte einen so genannten „Hohen Friedensrat“ damit beauftragt, diese Gespräche mit den Taliban zu führen. Zugleich besetzte er diesen Rat mit einigen der eingeschworensten Feinde der Taliban, darunter auch Kriegsverbrecher, denen die Ermordung tausender Taliban-Kämpfer vorgeworfen wird. Mit dieser Besetzung wurde der „Hohe Friedensrat“ von den Taliban als Provokation, nicht aber als ernsthafte Vermittlungsinstanz begriffen. Wenn Präsident Ghani diesen Rat völlig neu und glaubwürdig besetzt, dann könnte es eine Chance für Gespräche geben.

aixpaix.de: Hätten Sie Personalvorschläge für die Neubesetzung des „Hohen Friedensrats“?

Naqibullah Shorish: Im Mai 2008 haben Freunde und ich die Nationale Friedensjirga Afghanistans ins Leben gerufen. Mehr als 3000 Stammesführer, islamische Geistliche und Intellektuelle haben sich damals in einer großen Konferenz in Kabul für Verhandlungen mit den Taliban ausgesprochen. Unter diesen Konferenzteilnehmern gibt es genügend Persönlichkeiten, die auf allen Seiten angesehen sind und als Vermittler respektiert würden.

aixpaix.de: Würden Sie persönlich auch für eine solche Position zur Verfügung stehen? Sie hatten ja 2010 die erfolgreichen Geheimgespräche zwischen ISAF und Taliban organisiert. Sie könnten diese Erfahrungen einbringen.

Naqibullah Shorish: Wenn Präsident Ghani meine Vermittlungstätigkeit wünscht, dann werde ich mich diesem Wunsch nicht entziehen. Und wenn ich den Taliban gegenüber meinen Wunsch äußere, mit ihnen über eine Friedenslösung zu sprechen, dann könnten diese sich nach den Erfahrungen von 2010 meinem Gesprächswunsch nicht entziehen. Das wäre zwar noch nicht sofort die Friedenslösung, aber es wäre sicherlich ein realistischer Ansatz für Gespräche zwischen der Regierung und den Taliban.

aixpaix.de: Und wenn Präsident Ghani vielleicht auch unter dem Druck seiner neuen Regierung keine ernsthaften Gespräche mit den Taliban realisieren will oder kann?

Naqibullah Shorish: Dann bleibt uns Afghanen nur noch das Mittel der traditionellen afghanischen Demokratie: die große Jirga (Versammlung) der Stammesführer und der wichtigen gesellschaftlichen Kräfte. Afghanistan wurde 1747 durch eine solche Jirga gegründet und im Laufe seiner Geschichte traf sich immer wieder eine Jirga um schwierige Probleme im Land und zwischen den Stämmen zu beraten und zu lösen. Die Delegierten zur Jirga werden vor Ort in den Dörfern und in den Stämmen demokratisch gewählt und in der Jirga kommen alle Delegierten zu Wort. Auch Frauen können jederzeit in die Jirga gewählt werden, da gibt es keinerlei Einschränkungen. Die westlichen Regierungen haben leider unsere traditionelle Form der afghanischen Demokratie nie verstanden.

Wenn eine solche Jirga einberufen wird, dann wird sie Friedensgespräche mit den Taliban führen und sie wird eine Friedenslösung finden.

aixpaix.de: Und wer wird wann und wie eine solche Jirga einberufen?

Naqibullah Shorish: Darüber werden die Stammesführer Afghanistans beraten. Wenn Präsident Ghani es nicht schaffen sollte, Friedensgespräche mit den Taliban zustande zu bringen, dann bleibt uns keine andere Wahl. In der Nationalen Friedensjirga Afghanistans gibt es genügend einflussreiche Stammesführer und Persönlichkeiten, um diesen Prozess in Gang zu setzen.


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