Philippinen schrieben 1986 Menschheitsgeschichte

Die planmäßige gewaltfrei-gütekräftige Beendigung der Marcos-Diktatur

Erstmals in der Meschheitsgeschichte wurde 1986 durch systematisch geplantes gewaltfrei-gütekräftiges Vorgehen eine brutale Diktatur überwunden. Der philippinische Diktator Ferdinand Marcos wurde dazu gebracht, das Land zu verlassen. Die Befreiung beruht auf einer bewussten, 1984 getroffenen Entscheidung für die gewaltfrei-gütekräftige Vorgehensweise, und die Oppositionellen bereiteten sich persönlich und methodisch intensiv auf die Anwendung dieses Konzepts vor. Der Erfolg hatte bald Folgen in den Bewegungen und Organisationen für die Menschenrechte in Thailand und anderen Ländern Asiens sowie auf Madagaskar. Diese Menschheitserfahrung ist jedoch weit darüber hinaus von Bedeutung: Gewaltfreies Vorgehen mit Gütekraft hat bei kompetenter Vorbereitung  gute Erfolgschancen, hoch gerüstete Gewaltherrschaft zu überwinden.

Was geschah in dem Inselstaat?

Anfang der 1980er Jahre nahmen sowohl der wirtschaftliche Niedergang großer Teile des Volkes als auch die Unterdrückung durch das Marcos-Regime auf den Philippinen erschreckend zu. Weitaus die meisten Einwohner der großen Inseln gehören der katholischen Kirche an. Viele Priester und Ordensleute setzten sich für die Armen und gegen die Verarmung auch politisch ein. Viele Oppositionelle, darunter Gewerkschafter*innen und Studierende, wurden von der Polizei geschlagen, verhaftet oder ermordet. Die dagegen agierenden Kommunisten bewaffneten sich im Untergrund und bekamen immer mehr Zulauf.

Benigno Aquino war einer der Hoffnungsträger des Volkes gegen Marcos. Seine lebenslängliche Gefängnisstrafe durfte er durch einen krankheitsbedingten Aufenthalt in den USA unterbrechen. Er entschied sich, in die Heimat zurückzukehren, um sich weiter für die Befreiung des Volkes von der Diktatur einzusetzen und zwar auf dem Weg der Gütekraft, meist „non-violence“ genannt.

Trotz der Warnungen von Marcos, er könne „für seine Sicherheit nicht garantieren“, flog der beliebte Politiker in die philippinische Hauptstadt zurück. In Manila wurde beim Aussteigen aus dem Flugzeug erschossen. Das war 1983. Seitdem demonstrierten viele Menschen regelmäßig gegen die Diktatur. Doch an der diktatorischen Politik änderte sich nichts. Immer mehr Menschen kamen zu der Überzeugung: „Man sieht es ja: Gewaltfreiheit bringt nichts.“ Immer weniger kamen zur friedlichen Demonstration. Immer mehr schlossen sich dem bewaffneten Untergrund an. Die Spannung steigerte sich, Bürgerkrieg lag in der Luft.

1984 folgte das Wiener Ehepaar Jean und Hildegard Goss-Mayr einem Hilferuf von Ordensleuten aus Manila. Sie fuhren zunächst durchs Land, um die Menschen und die Lage kennen zu lernen. Dann erläuterten sie führenden Oppositionellen, Gewerkschaftsführern, Studierenden, auch Kirchenleuten und Menschen aus der bürgerlichen Opposition, darunter Benignos Bruder Agapito Aquino („Butz“), das gewaltfreie Einsatzkonzept der Gütekraft und sagten ihnen, dass die Entscheidung dafür – bei einem skrupellosen Gegner – genauso die Bereitschaft zum Einsatz des Lebens erfordere wie das Konzept der Gewalt. Sie erklärten ihre Bereitwilligkeit, Schulungen und Seminare durchzuführen, sobald eine Entscheidung für gewaltfreies Vorgehen gefallen sei, und reisten nach Wien zurück.

Im Juni 1984 wurden sie zurückgerufen. Sie hielten Seminare für Multiplikatoren ab, darunter auch eins für 30 Bischöfe. Eine neue Organisation wurde gegründet, die auf breiter Ebene Schulungen und vielfältige andere Vorbereitungen ins Werk setzte. Die neue Zeitschrift „Würde anbieten” informierte und mobilisierte die breite Öffentlichkeit. Der Glaube spielte eine große Rolle: Die biblische Botschaft mit ihren vielen Befreiungsgeschichten (Exodus usw.) wurde als Impuls zur Befreiung neu entdeckt; religiöse Riten wurden neu mit Inhalt gefüllt und immer mehr auf die eigene Situation der Unterdrückung bezogen – so wuchs der Boden für die „Rosenkranzrevolution“.

Als Marcos für den 7. Februar 1986 aufgrund außenpolitischen Druckes der USA sehr kurzfristig Wahlen ansetzte, traf die Organisation NAMFREL mit Hochdruck Vorbereitungen für die Wahl: Verschiedene Szenarien der Regierung wurden durchgespielt von Stimmenkauf, Urnenklau und Wahlbetrug bis Ignorieren des Wahlergebnisses, und es wurden jeweils verschiedene Aktionsmöglichkeiten dagegen ausgearbeitet. In einer Zeltstadt in Manilas Innenstadt-Park wurden permanent und massenhaft Schulungen angeboten und gütekräftige Haltung und Methoden, auch durch Fasten, eingeübt.

Am Wahltag retteten Ordensfrauen Urnen vor Bewaffneten, die sie entwenden wollten: Sie hielten die Stimmzettelbehälter mit den Worten „Nur über meine Leiche!“ fest. Nach der Bekanntgabe eines falschen Wahlergebnisses wurde zum Boykott der Banken, die Marcos nahestanden, übergegangen usw.: Nichtzusammenarbeit mit dem Unrecht. Marcos-Treue zerstörten den einzigen unabhängigen kirchlichen Sender Radio Veritas – worauf die Betreiber vorbereitet waren, sodass nach kurzer Zeit die Sendungen weitergingen. Teile des Militärs begannen, sich von Marcos zu distanzieren, und verschanzten sich im Camp Aginaldo, Kardinal Sin rief die Bevölkerung auf, den Marcos abtrünnigen Soldaten Schutz zu bieten und Nahrung zu bringen, was sofort massenhaft geschah.

Einer Kampfhubschrauber-Einheit befahl Marcos, das Meuterer-Camp zurückzuerobern. Die Soldaten dort bereiteten sich auf ihr Sterben vor, die Eroberer-Einheit aber solidarisierte sich mit ihnen. Dann rollten Panzer-Einheiten in Richtung auf das Camp zu, aber die Bevölkerung begab sich, von Kardinal Sin aufgerufen, massenhaft auf die Straße und stellte sich, angeführt von Nonnen und Priestern, Brote und Blumen anbietend, singend und mit dem Vater-Unser und dem Rosenkranz-Gebet auf den Lippen, viele mit Tränen in den Augen, den Panzern entgegen. Die Panzer stoppten, mit den Soldaten wurde gesprochen und sie fuhren nach Stunden zurück. Die Herrschaft des Diktators war zerfallen. Nach der Zusage der abtrünnigen Militärs, es werde nicht auf seinen Hubschrauber geschossen, verließ er mit seiner Familie den Regierungspalast.

Ältere mögen sich erinnern: Manchen ist noch die skurrile Nachricht von den mehr als 1200 Paar Schuhen von Marcos Frau Imelda in Erinnerung, die in dem Palast gefunden wurden.

Am 24. Februar 1986 erlebte die Welt, wie Würde-Anbieten politische Macht entfaltete: People Power. Seitdem wird dieser neue Ausdruck (neben Nonviolence und Power of Goodness) weltweit für die gewaltfrei-gütekräftige Vorgehensweise gebraucht.

Gütekräftig Handeln = Würde anbieten

Der Ausdruck „Würde anbieten“ (Philippinen-Sprache Tagalog: „Alay Dangal“) bezeichnet das gütekräftige Vorgehen unter grundlegenden Aspekten, beruhend auf folgenden Annahmen:

• Jedem Menschen kommt eine unveräußerliche Würde zu.

• Jeder Mensch will in seiner Würde respektiert werden.

• Menschen zu schädigen verletzt die Würde von Opfer und Täter.

• Das Angebot des Opfers zur Vermenschlichung der Beziehung kann Tätern die Chance bieten, die eigene Würde und die Würde des Opfers wiederherzustellen

Schädigen („Gewalt“) sieht unter dem Aspekt der Würde so aus: Die schädigende Person („Täter“) verletzt die eigene Würde, indem sie ohne Rücksicht auf ihre eigene Würde handelt. Die geschädigte Person („Opfer“) wird entwürdigt, das heißt, ohne Rücksicht auf deren Würde behandelt. Die schädigende Person als Subjekt macht die geschädigte Person zum Objekt. „Würde anbieten“ heißt: Die geschädigte Person lässt sich nicht (länger) zum Objekt machen, sie nimmt die Opferrolle nicht an und bietet gleichzeitig der schädigenden Seite die Möglichkeit an, die Täterrolle zu verlassen. Zu Alay Dangal gehören Handlungsweisen, deren gemeinsamer Gestus das Anbieten ist. Dafür bedarf es keiner dritten Person als „Retter“, wohl aber wird eine neue ‚Instanz’ eingeführt, die allgemein hohe Wertschätzung genießt: die Würde. Angeboten wird, die Beziehung neu zu gestalten als eine, in der sich beide mit gleicher Würde begegnen.

Das Anbieten eröffnet dem Täter neu die Möglichkeit, vom Schädigen deshalb abzulassen, weil er so die eigene Würde und das Verhältnis zum Gegenüber wiederherstellen kann. Die anbietende Person weiß, dass sie niemanden zwingen kann, auf Gewalt zu verzichten, dass also das Angebot abgelehnt werden kann. Das Annehmen ist für religiöse Menschen ein „Wunder“, „Wirkung des Heiligen Geistes“, nicht erzwingbar, ein Geschenk.

Gütekraft als „Würde Anbieten“ setzt keine Religiosität voraus. Das Konzept ist interreligiös anwendbar.

Martin Arnold ist Autor des Aachener Friedensmagazins aixpaix.de. Seine Beiträge sehen Sie hier


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