Reiner Bernstein

Demographie-Monopoly unter Rassismus-Verdacht

26. Juni 2013

Wenn den Akteuren des israelisch-palästinensischen Konflikts politisch nichts mehr einfällt und die Verwirrung obsiegt hat, verlegen sie sich auf den demographischen Faktor, um in ihrer Öffentlichkeit Ängste und Hoffnungen zu schüren. Dass Bill Clinton ihn jüngst in einer Rede in Israel aufgenommen hat – Wie viele Siedler auch immer Sie in die Westbank hinüberbringen: Die Palästinenser haben mehr Babys als die Israelis als Ganzes –, zeigt an, dass das Argument auch international Verwendung findet, obwohl der Rückgriff rassistische Züge trägt.

Denn er unterstellt, dass Juden und Araber, genetisch prädestiniert, nicht zusammenleben können. Demgemäß fand der demographische Faktor in Israel bei der palästinensischen Flucht und Vertreibung 1947/48, in der nachfolgenden Gesetzgebung und später in Entwürfen religiös-nationalistischer Kreise ebenso seinen Niederschlag wie in Yasser Arafats Losung vom Krieg der Gebärmütter aus den 1990er Jahren. Beide Seiten lassen sich von der Überzeugung leiten, dass die eigenen Rechte durch die Geburtenüberschüsse der anderen unerträglich beschädigt werden.

Die im März vereidigte Regierung in Jerusalem hat sich darauf verständigt, das Grundgesetz von 1992 zu ändern, um dem jüdischen vor dem demokratischen Charakter Israels Vorrang einzuräumen. Damit würde jüdisch nicht nur eine jüdische Bevölkerungsmehrheit festschreiben (der Verdienstorden für Vielfach-Mütter ist vielleicht schon in Auftrag gegeben). Vielmehr soll die Änderung das Gemeinwesen analog religiöser Prinzipien definieren. Umgekehrt wird in Artikel 4 des palästinensischen Grundrechtskatalogs der Islam als offizielle Religion benannt: Die Prinzipien der islamischen Doktrin sind maßgebende Quelle der Gesetzgebung.

Welche Zukunft die Implementierung solcher Attribute den gemischten Städten wie Akko, Haifa, Tel Aviv-Yaffa, Ramle und Beersheva bereitet, liegt auf der Hand. Als Oppositionsführer kam Benjamin Netanyahu 1993 zur Einschätzung: Wenn wir den Statistiken überhaupt eine demographische Bedeutung beimessen wollen, dann geht die Gefahr nicht von den Arabern der Gebiete aus, sondern von der arabischen Bevölkerung Israels. Bei den Palästinensern heißt es dagegen: Warum für den Staat kämpfen, wenn er uns eines nicht allzu fernen Tages wie eine reife Frucht in den Schoß fällt?

Die jüdische Bevölkerung Israels kann die demographische Balance mit Hilfe des Babybooms unter den Orthodoxen und durch die Einwanderung aufrechterhalten. Den Palästinensern fehlt der nationale Startvorteil. Nicht zufällig hat Netanjahu, nunmehr als Regierungschef, das Ziel des wirtschaftlichen Friedens ausgegeben – nicht aus Sorge um den Wohlstand der Palästinenser, sondern um ihnen den nationalen Schneid abzukaufen. Und nicht zufällig hatte Abdul Aziz Rantisi, Nachfolger von Achmed Yassin im Gazastreifen, einst die Parole formuliert: Je schlimmer es wird, desto besser für Hamas.

Kurzum: Im israelischen Regierungsdiskurs ist dem demographischen Faktor die agitatorische Funktion zugewiesen, die eigene Öffentlichkeit auf die dauerhafte Präsenz in Judäa und Samaria einzuschwören, nachdem schon heute jeder zehnte Israeli jenseits der einstigen Grünen Linie lebt und die Geburtenrate der Siedler bei fünf Prozent (statt bei zwei Prozent im Inland) liegt. Die Palästinenser setzen indessen auf die Mathematik, die sie dereinst von den Besatzern zwischen Mittelmeer und Jordan befreien soll.

Das Spiel mit dem demographischen Faktor lässt sich nur durch einen demokratischen und säkularen Staat beenden, ob in einem oder in zwei nationalen Gemeinwesen. Die religiösen, kulturellen und national-ethnischen Bindungen und Loyalitäten wären von der Staatsangehörigkeit zu trennen. Ansonsten ist das Regiment der Unterdrückung vorgezeichnet, so dass sich die umfassendere Frage nach der Staatslegitimität stellt.

Auf dem XII. Zionistenkongress 1921 in Karlsbad – der arabische Widerstand gegen den Zionismus war längst nicht mehr zu übersehen – warnte Georg Landauer (1895 – 1954) vor populistischem Chauvinismus und sich einem Modus anzupassen, der wenige Jahre später den Präsidenten der Hebräischen Universität Judah L. Magnes (1877 – 1948) die Befürchtung äußern ließ, Wie alle Völker …? zu werden. Landauer:

Wir haben es unterlassen, laut und deutlich zu erklären, dass wir keine Herrschaft über die Araber anstreben, sondern dass wir mit ihnen zusammen als gleichberechtige Völker in Palästina leben wollen. Wir konnten gar nicht genug alle Zeitungen füllen mit dem Gefasel von der ‚jüdischen Mehrheit‘ im Lande; als ob es nicht darauf ankäme, möglichst viele Juden um der schöpferischen Arbeit willen nach Palästina zu bringen, ganz unabhängig davon, wie viele Araber da sind, sondern als ob es uns darauf ankäme, in erster Linie die ‚Mehrheit‘ zu werden, das heißt also eine Position zu bekommen, die uns instand setzt, Herrschaftsrechte auszuüben; dasselbe zu tun, was die Mehrheitsnationen aller gemischt nationalen Staaten mit ihren Minoritäten tun. Eine solche Aussicht kann kein Volk ertragen.

Auf dem XIV. Zionistenkongress in Wien vier Jahre später führte Robert Weltsch (1891 – 1982), Chefredakteur der zionistischen Jüdischen Rundschau in Berlin, aus:

Palästina wird stets von zwei Völkern bewohnt sein, von Juden und Arabern. Welcher von den beiden Teilen 51 Prozent und welcher 49 Prozent bildet, ist prinzipiell irrelevant. Denn auf keinen Fall ist eine Entwicklung des Landes möglich, wenn eines der beiden Völker die Rechte der Majorität im Sinne einer Herrschaftsstellung geltend macht. Die Zukunft Palästinas, seine friedliche Entwicklung und Wohlfahrt kann nur dadurch gesichert werden, dass es ein politisches System erhält, in welchem beide Völker gleichberechtigt nebeneinander leben, verbunden durch die natürlichen Bande des Verkehrs, der Wirtschaft und der kulturellen Beziehungen.

Im vergangenen Jahr hat der Vorsitzende des Siedlerrates Dani Dayan einen europäischen Botschafter mit dem Eingeständnis Wir wissen, dass der palästinensische Staat nicht kommen wird zitiert. Die Mission für die Regierungen in Berlin und anderswo lautet also: endlich politisch handeln oder resignieren. Dass sie sich aus Überdruss am Konflikt mit einem fragmentierten Staat Palästina zufriedengeben, erscheint nicht ausgeschlossen.

Inzwischen spekulieren israelische Medien, ob die Tage Netanjahus als Vorsitzender des Likud gezählt sind und dass er von radikaleren Kräften in der Parteiführung abgelöst werden könnte. Vielleicht schwenkt John Kerry auf seiner neuen Nahosttour aus Mitleid auf die Linie Netanjahus ein, als ob dieser nicht der ideologische Zauberlehrer ist, der die Kräfte, die er rief, nicht mehr bändigen kann. Die extreme Rechte beginnt ihre Geburtshelfer zu fressen.

Dr. Reiner Bernstein ist Autor des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier


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