Nach dem Ende des „Friedenswinter“

Otmar Steinbicker:„Die Friedensbewegung muss endlich im digitalen Zeitalter ankommen!“

Ein aixpaix-Interview / 23.05.2015

In dürren Worten teilte das Büro des so genannten „Friedenswinter“ mit: „Mit der Demonstration am 10. Mai in Berlin ist der Friedenswinter beendet. Somit schließt auch das Büro des Friedenswinters und die Mailinglisten werden nicht mehr bedient.“ Weiter heißt es dann: „Auch wenn unser gemeinsames Projekt Friedenswinter nun beendet ist, werden wir in unseren Organisationen und Initiativen weiter für den Frieden aktiv bleiben“

Für aixpaix.de sprach Jonas Voß mit aixpaix.de-Herausgeber Otmar Steinbicker.

aixpaix.de: Was hat diese Mitteilung zu bedeuten?

Otmar Steinbicker, Foto: Beate Knappe

Otmar Steinbicker: Als erstes, dass dieser Winter vorbei ist. Das ist für Jahreszeiten nicht ungewöhnlich. Was sehr viel wichtiger ist, auch wenn es dort nicht so deutlich formuliert wird: Das organisierte Zusammenwirken von großen Organisationen der Friedensbewegung mit der nach rechts offenen Mahnwachenbewegung ist beendet. Es wird keine Fortsetzung dieses unseligen Bündnisses geben. Das ist ein gutes Signal. Der „Friedenswinter“ hat sehr viel Schaden angerichtet.

aixpaix.de: Was war der Grund? Es hatte doch noch im März eine Aktionskonferenz in Auswertung des „Friedenswinter“ gegeben, die auf eine Fortsetzung dieses Bündnisses orientierte.

Otmar Steinbicker: Das war die ursprüngliche Absicht. Es zeigte sich aber auf dieser Konferenz, dass die Rechtsentwicklung bei den Mahnwachen sehr viel weiter fortgeschritten war, als es die meisten Akteure aus der Friedensbewegung für möglich gehalten hatten. Inzwischen ist dieser Trend ungebrochen weiter gegangen. Bei der letzten Aktion am 10. Mai in Berlin tauchte Ex-Pegida-Frontfrau Kathrin Oertel zusammen mit Lars Mährholz und anderen auf. Oertel wurde die Beteiligung verwehrt, Mährholz durfte mitmarschieren. Am Donnerstag trat Oertel in der ZDF-Talkshow von Maybritt Illner auf. Mährholz und andere Mahnwachen-Anhänger saßen im Publikum. Die in der Friedensbewegung verbreitete Mär von den unpolitischen, auf keinen Fall nach rechts orientierten Mahnwachen war in sich zusammengebrochen. Nach diesem öffentlichen Erkenntnisstand war eine Zusammenarbeit nicht mehr möglich.

Hätte die Friedensbewegung das nicht früher merken können?

aixpaix.de: Hätte die Friedensbewegung das nicht früher merken können?

Otmar Steinbicker: Das hatte sie. Am 10. April 2014 veröffentlichte die „Kooperation für den Frieden“ als wichtigster Dachverband der deutschen Friedensbewegung eine deutliche Warnung vor dieser neuen Bewegung. Die Erklärung endete mit den Worten: „Sage keiner, er habe es nicht gewusst“!

aixpaix.de: Wie kam es dann zu dem Umschwenken? Gerade die „Kooperation für den Frieden“ war maßgeblich beteiligt am Zustandekommen dieses „Friedenswinter“ und hatte sogar zu der Aktionskonferenz eingeladen, die dieses Projekt beschloss.

Otmar Steinbicker: Da gab es einen Trick, mit dem Verwirrung gestiftet wurde.

aixpaix.de: Wie sah das aus?

Otmar Steinbicker: Im Frühjahr 2014 hatte diese scheinbar spontane Mahnwachenbewegung sehr viel Zulauf gerade von jüngeren Menschen, die zuvor nicht in Kontakt mit der Friedensbewegung gekommen waren. Da musste sich die Frage stellen: Sind das alles Rechte oder gibt es da womöglich viele oder gar eine Mehrheit, die dort hingeht, weil Friedensbewegung in einer Zeit zunehmender Spannungen im Ukraine-Konflikt für sie nicht erkennbar in Erscheinung tritt? Und: Hat die Berliner Zentrale mit Problemfiguren wie Lars Mährholz und Ken Jebsen wirklich soviel Macht und Einfluss, um in jeder Stadt, wo damals solche Mahnwachen wie Pilze aus dem Boden schossen, den Kurs zu bestimmen?

In Aachen und in Stuttgart hatte ich die Erfahrung gemacht, dass auch eine andere Entwicklung möglich ist. In anderen Städten musste ich zugleich feststellen, dass es dort keine Bereitschaft zu einer deutlichen Abgrenzung gegen rechts gab. Aber damit stand die Frage im Raum, ob es nicht doch weitere Städte gab, in denen die Beispiele Aachen und Stuttgart Schule machen konnten. So etwas konnte nur von den Friedensorganisationen vor Ort ausgelotet werden. Die „Kooperation für den Frieden“ rief im Sommer dazu auf.

aixpaix.de: Und worin bestand dann der „Trick“?

Otmar Steinbicker: Darin, dass eben nicht vor Ort sondiert wurde, sondern von einigen Kräften unter Berufung auf die Möglichkeit, ein örtliches Zusammenwirken zu beschließen, der Kontakt zur Berliner Zentrale um Mährholz und Jebsen gesucht wurde. Das war das krasse Gegenteil der ursprünglichen Intention.

Zugleich wurden Mährholz, Jebsen und andere verdonnert, von allzu offenkundigen rechten und antisemitischen Äußerungen Abstand zu nehmen. Mährholz durfte nicht mehr seine frühere Lieblingsthese vertreten, die sich angeblich im Besitz der jüdischen Familie Rothschild befindliche US-Notenbank „Federal Reserve“ sei an allen Kriegen der letzten 100 Jahre schuld. Mährholz musste sich nicht davon distanzieren, es reichte vielmehr, dass er so etwas nicht mehr öffentlich wiederholte. Dafür wurde ihm dann attestiert, er stehe jetzt auf der Grundlage eines antifaschistischen Konsens.

aixpaix.de: Aber so etwas muss doch für die Verantwortlichen in der Friedensbewegung durchschaubar gewesen sein?

Otmar Steinbicker: Natürlich. In Facebook wurden auf den Seiten der Mahnwachen weiterhin heftig rechte Thesen geschwungen und es kursierten die Videos von Mahnwachenkundgebungen mit ebenfalls eindeutigen Aussagen. Das war überhaupt kein Geheimnis.

aixpaix.de: Und warum fiel man trotzdem darauf rein?

Otmar Steinbicker: Von den verantwortlichen Persönlichkeiten in der Friedensbewegung ist kaum jemand bei Facebook präsent. Obwohl es immer wieder deutliche Warnungen gab, machte sich kaum jemand die Mühe, die geäußerten Vorwürfe selbst zu überprüfen. Da ließ man sich lieber einlullen von Beschwichtigungen. Da hieß es dann, es seien allenfalls zu vernachlässigende seltene Einzelmeinungen, die da aufgebauscht würden. Ja, es wurde sogar schwadroniert, bei der Mahnwachenbewegung handele es sich um eine „neue soziale Bewegung“, die man nicht sich selbst überlassen dürfe.

aixpaix.de: Und so etwas verfing?

Otmar Steinbicker: Leider. Wir dürfen nicht übersehen, dass eine der Ursachen dafür in einer weitgehenden Selbstisolation der Friedensbewegung liegt. Ihre Organisationen und ihre Repräsentanten beschäftigen sich überwiegend, manchmal fast ausschließlich mit sich selbst. Natürlich gibt es innerhalb der Friedensbewegung viel Diskussionsstoff. Da gibt es spannende Debatten darüber, wie aktuelle Entwicklungen wie z.B. im Ukraine-Konflikt einzuschätzen sind. Und diese Debatten sind sehr wertvoll! Ich möchte dieseDiskussionen keinesfalls missen Aber die Friedensbewegung ist derzeit fast gar nicht in der Lage, ihre spannenden Debatten nach außen hin zu vermitteln und Menschen außerhalb ihrer eigenen zahlenmäßig begrenzten Reihen überhaupt anzusprechen, geschweige denn zu motivieren.

aixpaix.de: Da kam dann eine neue „Bewegung“ zur möglichen „Blutauffrischung“ gerade recht?

Otmar Steinbicker: Das mögen vielleicht einige so gesehen haben, andere blieben aber weiterhin eher skeptisch gegenüber den Mahnwachen.

Die meisten Organisationen der Friedensbewegung beschlossen, sich am „Friedenswinter“ zu beteiligen

aixpaix.de: Dennoch beschlossen die meisten Organisationen der Friedensbewegung, sich am „Friedenswinter“ zu beteiligen.

Otmar Steinbicker: Ja, da verfing dann das Argument: „Hier gibt es ein konkretes Aktionsangebot. Was ist Eure Alternative? Nichts tun?“ Diesem Vorwurf wollte sich kaum jemand aussetzen. Einige versuchten, eine vorsichtige Distanzierung, indem sie nicht dem Aufruftext, wohl aber den vorgesehenen Aktionen zustimmten. Das war aber von außen wahrscheinlich kaum wahrnehmbar.

aixpaix.de: Die Zahl der Teilnehmenden an den Winteraktionen hielt sich dennoch sehr in Grenzen.

Otmar Steinbicker: Ja, man kann da von der örtlichen Ausnahme Heidelberg abgesehen, von einem Flop sprechen. Das war im Vorfeld bereits abzusehen. Vor allem die Beteiligung aus den Reihen der organisierten Friedensbewegung war äußerst dürftig.

Der Unterschied wurde erneut bei den Ostermärschen sichtbar. Da trat die organisierte Friedensbewegung in ihrer gewohnten Stärke auf, aber auch nicht mehr. Hatte sich die Friedensbewegung kaum an den Winteraktionen beteiligt, so waren die Mahnwachenleute von der örtlichen Ausnahme Hamburg abgesehen, bei den Ostermärschen kaum zu sehen.

aixpaix.de: Die Mahnwachen waren in der Zwischenzeit allerdings auch zahlenmäßig geschrumpft.

Otmar Steinbicker: Diese hatten bereits im Sommer 2014 ihren Höhepunkt überschritten und nahmen seitdem immer mehr ab. Die Mahnwachen wären vermutlich ohne den „Friedenswinter“ schon früher kollabiert. Dennoch ging der Zerfallsprozess weiter. Bei der groß angekündigten „2. bundesweiten Mahnwache“ am 2. Mai waren auf dem Fotos keine 100 Personen mehr zu sehen.

Was macht die Friedensbewegung jetzt?

aixpaix.de: Und was macht die Friedensbewegung jetzt?

Otmar Steinbicker: Sie macht allem Anschein nach so weiter, als hätte es die Mahnwachenbewegung und den „Friedenswinter“ nie gegeben.

aixpaix.de: Es gibt keine kritische Reflexion?

Otmar Steinbicker: In der internen Debatte ist der „Friedenswinter“ im Nachhinein womöglich den einen oder anderen eher peinlich. Aber ich kann zumindest in öffentlichen Äußerungen mit Ausnahme der sehr klaren und guten Positionierung des DFG-VK-Geschäftsführers Monty Schädel keiner Ansätze zu einer kritischen Reflexion erkennen.

aixpaix.de: Was heißt das für die Friedensbewegung?

Otmar Steinbicker: Aus meiner Sicht nichts Gutes. Es hat den Anschein, als ducke man sich weg und keiner will womöglich am Ende so richtig dabei gewesen sein. Warum hat außer Monty Schädel keiner den Mut zu sagen: „Wir haben uns geirrt. Wir haben uns Illusionen über die Mahnwachen gemacht und die realen Probleme unterschätzt. Wir hatten die Hoffnung, auf diesem Wege neue Leute für die Friedensbewegung zu gewinnen. Das ist schiefgegangen. Jetzt müssen wir andere Wege beschreiten“?

Die Aufgabe, neue Wege zu beschreiten, steht doch im Raum, ja sie wird zur Überlebensfrage der Friedensbewegung, wenn diese nicht am Ende biologisch aussterben will.

aixpaix.de: Die fehlende kritische Reflexion über den „Friedenswinter“ bremst am Ende die Bereitschaft, notwendige neue Wege zu beschreiten?

Otmar Steinbicker: Ich fürchte ja. Das Desaster der Winteraktionen dürfte nicht zu neuen Experimenten motivieren. Da bleibt man wahrscheinlich lieber in den bisherigen Spuren. Allerdings würde ich mich freuen, wenn ich mit dieser Prognose falsch liege.

Die Friedensbewegung ein Relikt der 1980er Jahre?

aixpaix.de: Reichen denn neue Wege aus oder ist womöglich die Friedensbewegung längst zu einem Relikt der 1980er Jahre geworden? Wenn man sich auf den Ostermärschen oder in Veranstaltungen der Friedensbewegung umsieht, dann sieht man kaum junge Gesichter.

Otmar Steinbicker: Da müssen wir verschiedene Fragestellungen unterscheiden.

Zum einen gibt es eine politische Situation, die eine starke Friedensbewegung erfordert. Das zeigt sich mit dem Ukraine-Konflikt, aber auch in der Modernisierung der Atomwaffen u.a. in Büchel, beides ein Revival der Themen der 1980er Jahre. Da ist Friedensbewegung mit ihren alten und immer noch aktuellen Erkenntnissen gefragt.

Zum anderen erleben wir gerade eine Krise der Kriege und Militäreinsätze. Afghanistan, Irak und Libyen zeigen eindrucksvoll, dass politische Konflikte militärisch nicht lösbar sind. Da aber reicht ein „Nein zum Krieg“ allein nicht aus. Da sind auch realistische Vorschläge für zivile Konfliktlösungen gefragt! Auch da hat Friedensbewegung längst theoretisch und praktisch eine Menge zu bieten. Da gibt es die von Andreas Buro herausgegebenen Dossiers zur zivilen Konfliktbearbeitung und da gibt es auch die praktischen Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit der Nationalen Friedensjirga Afghanistans in der Vermittlung zwischen ISAF und Taliban, die fast zur politischen Friedenslösung geführt hätte, wäre sie nicht von der Politik gestoppt worden.

Das Problem der Friedensbewegung besteht zum einen darin, mehr Mitstreiterinnen und Mitstreiter für diese spannenden Aufgaben zu gewinnen und zum anderen, ihre Inhalte in die öffentliche Debatte einzuspeisen.

Ein eigenständiges Problem ist zudem noch das offenkundige Desinteresse jüngerer Generationen. Dieses Problem muss ich zur Kenntnis nehmen, ohne eine Antwort darauf zu wissen. Allerdings ist das wohl kein spezielles Problem von Friedensbewegung, sondern betrifft alle Bereiche von Politik. Politische Parteien gleich welcher Couleur haben ähnliche Probleme.

aixpaix.de: Große Demonstrationen wie in den 1980er Jahren werden von der Friedensbewegung nicht mehr angestrebt?

Otmar Steinbicker: Das würde sicherlich niemand wünschen. Diejenigen, die damals dabei waren, erinnern sich gerne an diese großen Demos und die Atmosphäre im Bonner Hofgarten. Aber mit den sich ändernden Zeiten ändern sich auch die Formen politischer Arbeit. Wenn wir uns die Fotos der Aktionen der 1950er bis 1980er Jahre anschauen, sehen wir erhebliche Unterschiede in der Formensprache. Jetzt sind die 1980er Jahre 30 Jahre vergangen und die Formen dieser sehr speziellen zeit sollen als Maßstab für die Ewigkeit festgeschrieben sein? Das ist mir doch ein sehr unhistorisches Denken.

Wir müssen uns auch wohl noch einmal auf den Unterschied zwischen politischem Ziel und politischer Aktionsform besinnen. Das politische Ziel war in den 1980er Jahren und ist auch heute verallgemeinert formuliert, die öffentliche Meinung im Sinne der konkreten Forderungen der Friedensbewegung zu beeinflussen. Das Ziel lautete damals, durch Mobilisierung der Öffentlichkeit die Raketenstationierung zu verhindern! Dass für dieses Ziel Hunderttausende auf die Straße gingen, war die Aktionsform. Die große Zahl der Demonstranten war zugleich ein Gradmesser für den Erfolg.

Allerdings hat es damals mehrerer Großdemonstrationen bedurft um in Meinungsumfragen eine stabile Zwei-Drittel-Mehrheit gegen die Raketenstationierung zu erhalten. Heute haben wir in der Regel eine stabile Zwei-Drittel-Mehrheit gegen Militäreinsätze auch ohne, dass ein einziger Demonstrant auf die Straße geht.

In den „Friedenswinter“-Debatten argumentierten die Befürworter, Friedensbewegung sei nur Bewegung, wenn sie sich bewegt und meinten damit Straßendemonstrationen. Wenn man die Frage stellt, was Friedensbewegung bewegen soll, dann kann die Großdemonstration eine sinnvolle Aktionsform sein, sie muss aber nicht die einzige sein und sie stellt auch keinen entscheidenden Gradmesser dafür dar, ob Friedensbewegung etwas bewegen kann.

Welche Aktionsformen sollte die Friedensbewegung heute wählen?

aixpaix.de: Welche Aktionsformen sollte die Friedensbewegung heute wählen?

Otmar Steinbicker: Was spektakuläre Straßenaktionen angeht, ist vielleicht mehr Fantasie gefragt. Ansonsten aber muss Friedensbewegung endlich im digitalen Zeitalter ankommen!

Politische Debatten und Prozesse verlaufen nicht erst seit heute über das Internet. In den letzten Jahren sind neue soziale Medien wie Facebook, Twitter usw. dazugekommen. Diese Netzwerke bieten eine Vielfalt an Kontakt- und Diskussionsmöglichkeiten. Wenn Friedensbewegung ihre Botschaft in die Öffentlichkeit bringen will, dann kann sie nicht darauf verzichten, die ganze Bandbreite der Medien von den traditionellen Print- und Funkmedien über Homepages bis hin zu den sozialen Medien zu nutzen.

aixpaix.de: Kommt da nicht der persönliche Kontakt, die Debatte Auge in Auge, zu kurz und wird ersetzt durch unpersönliche Kommunikationsformen?

Otmar Steinbicker: Ja, das ist zum Teil so. Ich erinnere mich gut an die positive Atmosphäre in meiner Friedensinitiative in den 1980er Jahren. Da haben wir ernsthaft diskutiert und sind anschließend noch ein Bier trinken gegangen, wo wir dann nicht nur über Politik gesprochen haben. Das war ein sehr viel menschlicherer Umgang. Auch die Diskussionen mit Passanten an unseren Infoständen fand Auge in Auge statt. Dort, wo heute noch solche Möglichkeiten existieren, sollte man sie unbedingt nutzen. Aber wir können uns dem gesellschaftlichen Wandel der Kommunikationsformen nicht entgegenstellen, wenn wir andere Menschen erreichen wollen. Wir müssen dann wohl oder übel diese Kommunikationsformen auch offensiv nutzen.

Wir müssen sehen, dass die Klaviatur möglicher Aktionsformen der Friedensbewegung sich erheblich verändert und erweitert hat. Da können wir doch nicht, um es sehr überspitzt zu sagen, unsere Flugblätter in Stein meißeln.

aixpaix.de: Die Mahnwachenbewegung war vor allem in Facebook aktiv.

Otmar Steinbicker: Ja, und sie hat dieses Medium für sich meisterhaft genutzt und darüber zum Teil den größten Unfug wirkungsvoll in die Welt posaunt. Die Friedensbewegung hatte dem in diesem Medium nur wenig entgegenzusetzen, weil die meisten alten Friedensaktivisten dieses Medium fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Die Mahnwachenbewegung hat auch gezeigt, dass sich die Nutzung dieses Mediums und Straßenaktionen keineswegs diametral entgegenstehen, sondern im Gegenteil zusammengeführt werden können. In dieser Hinsicht kann und muss die Friedensbewegung noch eine ganze Menge lernen – auch von den Mahnwachen!

aixpaix.de: Sie haben vor sechs Jahren mit dem Aachener Friedensmagazin aixpaix.de ein mittlerweile weithin anerkanntes Medium der Friedensbewegung im Internet aufgebaut. Was sind Ihre Erfahrungen?

Otmar Steinbicker: Mir war es sehr wichtig, ein Medium aufzubauen, dass sich durch Seriosität auszeichnet, in dem fachlich versierte Autoren aus den Reihen der deutschen und internationalen Friedensbewegung schreiben. Das hat sich bewährt und ist auch noch durchaus ausbaufähig. Auch gab es über aixpaix.de diverse Kontakte, z.B. auch Einladungen zu Vorträgen weit über den Aachener Raum hinaus.

aixpaix.de: Wenn Sie von der Klaviatur möglicher Aktionsformen sprechen, welche nutzen Sie persönlich über aixpaix.de hinaus?

Otmar Steinbicker: Ich veröffentliche monatlich meine Kolumne von 4000 Zeichen in meiner Regionalzeitung, den „Aachener Nachrichten“. Ich arbeite in der Redaktion des „FriedensForum“ mit, der wichtigsten Zeitschrift der deutschen Friedensbewegung. Darüber hinaus halte ich Vorträge vor allem in der Erwachsenenbildung, hin und wieder auch in Schulen. Weiter gebe ich hin und wieder Interviews im Radio und im Regionalfernsehen.

Selbstverständlich bin ich auch in Facebook aktiv. Dort bekomme ich vielfältige Anregungen aus der internationalen Friedensbewegung, die dieses Medium intensiv zur Vernetzung nutzt und ich nutze dieses Medium, um Beiträge in aixpaix.de einem größeren Publikum bekannt zu machen und auch eigene Meinungsbeiträge zur Diskussion zu stellen. Die Reaktionen und die sich daraus entwickelnden Diskussionen sind interessant. Die Qualität der Beiträge schwankt. Das war aber früher am Infostand auch so. Insgesamt ist die Intensität der Diskussionen allerdings dichter als am Infostand der 1980er Jahre. Auch die Möglichkeit, dass andere Personen Artikel, z.B. aus aixpaix.de einfach per Link an andere weiter vermitteln konnten, gab es damals nicht. Das schafft völlig neue Möglichkeiten intensiver Diskussion.

aixpaix.de: Nicht jede und jeder in der Friedensbewegung wird eine so weite Klaviatur spielen wollen oder können.

Otmar Steinbicker: Das ist überhaupt nicht das Problem. Jede und jeder kann sich mit dem einbringen, was sie oder er als Fähigkeiten mitbringt. Da werden mit Sicherheit auch einige Fähigkeiten dabei sein, die ich überhaupt nicht beherrsche. Wichtig ist, dass da jede und jeder sich engagiert in einem Gesamtkonzert. Ich bin halt Journalist und in meinem Engagement eher medienfixiert. Es gibt auch andere Aktionsmöglichkeiten. Eine intensive Diskussion mit Nachbarn oder Verwandten ist ebenso ein sinnvoller Beitrag. Wenn so etwas in größerem Maße praktiziert würde, wären wir womöglich auch schon Schritte weiter.

Für Organisationen stellt sich im Unterschied zu Individuen allerdings die Frage, ob sie ihre jeweiligen vielfältigen Möglichkeiten, die Klaviatur der Aktionsformen zu bedienen, auch wirklich effektiv nutzen. Da sehe ich im digitalen Bereich, von den Homepages angefangen, erhebliche Defizite und auch der Bereich der traditionellen Medien wird bei weitem nicht wirklich bedient.

aixpaix.de: Im Hinblick auf die traditionellen Medien sagen viele in der Friedensbewegung: „Die wollen uns nicht“. Ist das so falsch?

Otmar Steinbicker: Die Bereitschaft, Friedensbewegung zur Kenntnis zu nehmen, ist sicherlich von Redaktion zu Redaktion verschieden. Aber auch Friedensbewegung tut sich oft schwer im Umgang mit Medien. Als Journalist kann ich mich schon in die Situation eines Redakteurs einfühlen, dem eine Pressemitteilung einer Friedensorganisation auf den Schreibtisch flattert. Da schlage ich dann schon hin und wieder die Hände über dem Kopf zusammen.

aixpaix.de: Was kann Friedensbewegung in dieser Situation sinnvoll tun?

Otmar Steinbicker: Zum einen den „Friedenswinter“ unter verschiedenen Fragestellungen kritisch reflektieren und zum anderen sehr sorgfältig darüber nachdenken, wie sie ihre Botschaften wirkungsvoll in die Öffentlichkeit transportieren kann. Wenn ihr das gelingt, wird sie neue Mitstreiterinnen und Mitstreiter gewinnen können, wenn nicht, dann nicht. Aber sie sollte auch bedenken, dass das durchaus eine existenzielle Frage ist.


World Wide Web aixpaix.de