Interview mit Wolfgang Schwarz, Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR

Wir müssen der Illusion entgegentreten, daß konventionelle Kriege führbar sind

17. November 1988

Konventionelle Aufrüstung – eine aktuelle Forderung auf der Nordatlantischen Versammlung in Hamburg. Dagegen stehen die Vorschläge zur konventionellen Abrüstung der Warschauer Vertragsstaaten. Wie kann eine solche Abrüstung aussehen? Ist das Ziel einer strukturellen Nichtangriffsfähigkelt realistisch? Otmar Steinbicker sprach darüber mit Wolfgang Schwarz vom Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR.

Die jüngsten Vorschläge des Warschauer Vertrages betreffen die konventionelle Abrüstung, obwohl bei Atomwaffen eine dritte Null-Lösung noch in weiter Ferne steht.

Wolfgang Schwarz: Es liegt in der Logik der Dinge, daß im Zuge der Realisierung des INF-Abkommens die Fragen der Begrenzung und Reduzierung der konventionellen Streitkräfte und Rüstungen in Europa eine höhere Bedeutung erlangen. Es muß verhindert werden, daß im Zuge eines nuklearen Abrüstungsprozesses irgendwo die Illusion entsteht, daß es zu einer Rückkehr in die Ära der Führbarkeit und Gewinnbarkeit konventioneller Kriege kommt.

Die heutigen modernen Industriegesellschaften in Europa, in Ost und West, weisen technologisch-industrielle und soziale Strukturen auf, die sie kriegsunfähig machen. Ein erneuter raumgreifender Krieg wäre für die europäischen Staaten nicht überlebbar. Da gibt es die Kernkraftwerke und großen Chemiebetriebe, nach deren Zerstörung bereits in einem konventionellen Krieg aus Europa, auch ohne daß überhaupt Kernwaffen oder chemische Waffen zum Einsatz kommen müßten, eine atomar und chemisch verseuchte Wüste entstehen würde. Es gibt aber auch eine ganze Reihe von anderen Faktoren, die von ihrer Wirkung her einen gleichen Stellenwert haben. Angesichts der hochgradigen Abhängigkeit moderner Industriegesellschaften von einer funktionierenden Elektroenergieversorgung wäre es nicht einmal nötig, die Kraftwerke zu zerstören, um Industriestaaten wie die DDR oder die Bundesrepublik komplett lahmzulegen; Es reichen die zentralen Umspannstationen der Fernübertragungsnetze für Elektroenergie. Das sind in beiden deutschen Staaten jeweils wenige Dutzend — im militärischen Jargon ,,sehr weiche“, d. h. gegen militärische Einwirkungen völlig ungeschütze Ziele. Die Folge einer Ausschaltung der Energieversorgung wäre ein nationales Chaos und die vollständige Desorganisation der Gesellschaft.

Die Einsicht in die Nichtführbarkeit von Kriegen müßte Angriffsabsichten ausschließen.

Wolfgang Schwarz: Meines Erachtens sind die Kernprobleme in dieser Hinsicht nicht Angriffsabsichten, die im übrigen derzeit in Europa nirgendwo erkennbar sind, sondern vorhandene militärische Optionen. Man muß sehen, daß wir auf beiden Seiten Streitkräfte haben, die an den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges orientiert sind, gekennzeichnet insbesondere durch schwere Panzer- und andere mechanisierte Verbände bei den Landstreitkräften, die auf eine weiträumige Kampfführung im Konfliktfall hin optimiert sind. Das heißt, für den Fall, daß es dennoch zu einem Konflikt — unbeabsichtigt, durch Eskalation einer Krisensituation in der dritten Welt oder wie auch immer — kommen sollte, hätten infolge der materiellen Strukturen der Streitkräfte beide Seiten außerordentlich starke militärische Einwirkungen sowohl durch nukleare als auch durch konventionelle Streitkräfte durch die jeweils andere Seite auf ihrem Gebiet zu gewärtigen.

Solche Überlegungen sind Hintergrund für die jüngsten Vorschläge des Warschauer Vertrages zur Herstellung einer Defensivfähigkeit?

Wolfgang Schwarz: Bereits im Dokument der Warschauer Vertragsstaaten vom Mai 1987 über ihre Militärdoktrin wurde der NATO der Vorschlag ,,zur Verminderung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen in Europa auf ein Niveau, auf dem jede Seite bei Gewährleistung der eigenen Verteidigung über keine Mittel für einen Überraschungsangriff auf die andere Seite sowie für Angriffsoperationen überhaupt verfügt“, unterbreitet.

Die neuen Vorschläge, insbesondere der Drei-Stufen-Plan für die konventionelle Abrüstung, stellen eine Konkretisierung des letztjährigen Angebots dar, wie man in einem schrittweisen Prozeß dahin kommen könnte, eine gegenseitige strukturelle Angriffsunfähigkeit auf beiden Seiten zu erreichen.

In einer ersten Phase: Herstellung von Parität durch Abbau der Asymmetrien auf beiden Seiten im Bereich der Land- und Luftstreitkräfte, in einer zweiten Phase etwa 25prozentige Reduzierung der Streitkräfte von der dann erreichten Parität aus und in einer dritten Phase weitere Reduzierung bis auf ein Niveau, wo eine solche gegenseitige Angriffsunfähigkeit erreicht ist.

Wie würde man ein solches Niveau definieren?

Wolfgang Schwarz: Darüber gibt es zur Zeit eine intensive Diskussion in den politischen Wissenschaften und der Militärwissenschaft. Da gibt es noch keine festen Ergebnisse, sondern einzelne Positionen. Ich möchte ein paar Vorstellungen meinerseits entwickeln.

Es müssen drei Arten von Angriffshandlungen, bzw. Gegenangriffshandlungen unterschieden werden:

• strategische, die den Krieg entscheiden sollen,

• operative, die an einem größeren Teil der Front das Kampfgeschehen zu eigenen Gunsten gestalten sollen und • taktische, die sich auf örtliche Vorstöße beschränken.

Im Hinblick auf die Herstellung einer gegenseitigen Angriffsunfähigkeit von NATO und Warschauer Vertrag sind die beiden oberen Ebenen relevant, weil strategische Angriffs- oder Gegenangriffsfähigkeit die andere Seite in ihrer Gesamtsubstanz als Militärkoalition bedroht und weil operative Angriffs- bzw. Gegenangriffsfähigkeit zwar nicht, die andere Seite insgesamt, aber doch deren Frontstaaten unter Umständen existentiell bedroht. Dabei muß man sich vergegenwärtigen, daß die operative Ebene heute für die modernen Landstreitkräfte mit einer Angriffstiefe von etwa 80 bis 100 Kilometer angegeben wird; für Luftstreitkräfte weit darüber hinaus, bis in etwa 350 Kilometer.

Wenn die NATO z.B. von sich behauptet (wie in den Weißbüchern der Bundesregierung nachzulesen), nur zum Gegenangriff auf der operativen Ebene fähig zu sein, so läuft dies für die DDR (wie auch die CSSR) praktisch auf eine Invasionsfähigkeit, auf eine strategische Bedrohung hinaus, weil deren gesamtes Territorium innerhalb dieser operativen Ebene liegt!

Welche Elemente gehören Ihrer Meinung nach zu einem System der Angriffsunfähigkeit?

Wolfgang Schwarz: Ich sehe im wesentlichen drei Elemente. Gegenseitige Angriffsunfähigkeit von NATO und Warschauer Vertrag erfordert erstens strikt defensive militärische Konzeptionen auf beiden Seiten sowohl hinsichtlich der Militärdoktrinen als auch der Strategien wie auch sonstiger Einsatzrichtlinien. Und das muß für die andere Seite jeweils nachvollziehbar und nachprüfbar sein.

Ist eine solche Überprüfung möglich?

Wolfgang Schwarz: Ja, anhand sich verändernder militärischer Strukturen, anhand von Manövergestaltung, Manöverlagen, die ja heute besonders gut im Rahmen der KVAE-Regelung zu überprüfen sind. Zweitens wäre die vollständige Beseitigung der taktischen Kernwaffen und der chemischen Massenvernichtungsmittel in Europa erforderlich, und ein dritter Hauptpunkt müßte im gemeinsamen Abbau der besonders offensivfähigen Komponenten der konventionellen Land- und Luftstreitkräfte bestehen. Als besonders offensivfähige Komponenten würde ich bezeichnen: taktische Angriffsflieger- und Raketenkräfte, Panzer- und schwere mechanische Verbände, Kampfhubschrauber, weitreichende Rohr- und Raketenartillerie, amphibische Einheiten, Pioniereinheiten mit mobilem Brückenlegegerät und ähnliches mehr.

Sie sprechen von besonders offensiven Komponenten. Kann man Waffensysteme überhaupt in offensive oder defensive einteilen?

Wolfgang Schwarz: Was die definitorische Unterteilung von konventionellen Großwaffensystemen der Land- und Luftstreitkräfte in offensiv und defensiv anbetrifft, so ist eine reine Scheidung nicht möglich.

Praktisch sämtliche Waffensysteme, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, tragen ambivalenten Charakter. Sämtliche Waffensysteme, die mobil sind, können sowohl im Angriff als auch in der Verteidigung eingesetzt werden, und immobile Waffensysteme wie z. B. Küstenartillerie oder stationäre Luftabwehreinheiten, das wären ,,reine“ Verteidigungssyste-me, gibt es kaum noch.

Schon ein Luftabwehrraketenpanzer, der mit vorrückenden Landstreitkräften mitziehen kann, um diese in der Luft abzudecken, ist nicht unbedingt ein Defensivsystem; er kann ganz direkt auch zur Unterstützung von Offensivoperationen eingesetzt werden. Das gleiche gilt für andere sogenannte Defensivwaffen wie Panzerabwehrraketen. Von besonders offensivfähigen Komponenten habe ich deswegen gesprochen, weil das die sind, die ihre Hauptschlagkraft und ihre Wirksamkeit in erster Linie im Angriff entfalten. Diese besonders offensivfähigen Komponenten müßten bis auf ein Niveau abgebaut werden, das unterhalb dessen liegt, was für strategische und operative Angriffs- bzw. Gegenangriffshandlungen erforderlich ist.

Wie könnte das aussehen?

Wolfgang Schwarz: Das bedarf noch einer Reihe von Untersuchungen. Aber was ich mir vorstellen könnte, wäre eine zu vereinbarende Zone auf beiden Seiten der Trennlinie von NATO und Warschauer Vertrag in Zentraleuropa, d. h. im Gebiet der DDR, der CSSR und der Bundesrepublik, die von besonders offensivfähigen Waffen vollständig befreit ist, d.h. kernwaffenfrei, panzerfrei, artilleriefrei. Dies könnte mit einer anschließenden ,,ausgedünnten“ Zone kombiniert werden.

Gibt es dafür ungefähre Vorstellungen?

Wolfgang Schwarz: Ich glaube, ein praktikables Modell könnte auf der Grundlage der gemeinsamen Vorschläge der SED und der SPD für einen kernwaffenfreien Korridor (mit einer Tiefe von zunächst 150 Kilometern auf beiden Seiten) und für eine ,,Zone des Vertrauens und der Sicherheit in- Zentraleuropa“ aufgebaut werden. So könnte man den kernwaffenfreien Korridor weiterdenken im Hinblick auf die besonders offensivfähigen Komponenten der Land- und Luftstreitkräfte. Daran anschließend könnte man (möglicherweise noch einmal in einer Tiefe von 150 Kilometern) zu einer Ausdünnung dieser besonders offensivfähigen Komponenten kommen, so daß perspektivisch denkbar wäre, z. B. Panzerkräfte bis auf 2000 in diesem vorderen 300 Kilometerbereich auf beiden Seiten zu reduzieren. Damit würde man gleichzeitig dem Sachverhalt Rechnung tragen, daß der Panzer nicht nur eine Angriffswaffe ist, sondern daß er auch eine erhebliche Rolle in der Verteidigung spielt. Im Bereich jenseits der 150 Kilometer von der Trennlinie NATO-Warschauer Vertrag disloziert, würden die verbleibenden stark reduzierten Panzerbestände für beide Seiten schließlich keine Offensivbedrohung mehr darstellen.

In diesem Zusammenhang müßte das Problem der Angriffsfliegerkräfte berücksichtigt werden. Hier aber hält die NATO eine regionale Reduzierungslösung für Europa quasi für unmöglich, weil abgezogene Flugzeuge schnell verlegbar sind und innerhalb von Stunden wieder vor Ort sein könnten.

Wolfgang Schwarz: Ich halte das für eine — gelinde gesagt — vorgeschobene Position, die damit zusammenhängt, daß die NATO im Bereich der Angriffsfliegerkräfte einen numerischen und wohl auch technologischen Vorteil gegenüber den Streitkräften des Warschauer Vertrages, vor allem in Zentraleuropa, hat: Das Problem einer Reduzierung von Angriffsfliegerkräften lässt sich lösen, z. B. dadurch, daß zu reduzierende Flugzeuge nicht irgendwo rückverlegt, sondern verschrottet werden.

Man kann sich dem Problem aber auch auf eine andere Art und Weise nähern, wenn man es etwas komplexer angeht. Wenn vereinbart würde, aus dem zentraleuropäischen Bereich einen bestimmten Prozentsatz von Angriffsfliegerkräften zurückzuziehen und diese als komplette Einheiten abgezogen würden, so mit ihrer technischen und logistischen Infrastruktur, dann ist es theoretisch zwar möglich, in sehr kurzer Zeit die Flugzeuge zurückzubringen, aber der Aufwand für eine Rückverlegung der Infrastruktur ist so erheblich, daß das Überraschungsmoment gegenüber der anderen Seite nicht zustande kommen würde. Die Flugzeuge, allein zurückverlegt, wären praktisch nicht einsatzfähig, d. h. man würde eine entsprechende Vorwarnzeit schaffen.

Darüber hinaus könnte man im Zuge von Vereinbarungen über Luftstreitkräfte auch die Schließung ganzer Fliegerhorste in Erwägung ziehen.

Die Warschauer Vertragsstaaten sind der Auffassung, daß man im Rahmen von konventioneller Rüstungsbegrenzung und Abrüstung an diese Fragen herangehen muß. Die Verringerung der Gefahr von Überraschungsangriffen ist ein von beiden Seiten deklariertes Ziel. Dabei hat die Frage der Luftangriffskräfte eine sehr hohe Priorität, denn das sind die Kräfte, die für Überraschungsschläge von besonderer Relevanz sind.

Man braucht nur an die israelische Nahost-Aggression 1967 zu denken, wo der Überraschungsschlag durch die Luftwaffe innerhalb der ersten 60 Minuten des Krieges erfolgte, und wo durch die Wirkung, die damals erzielt wurde, eine entscheidende Voraussetzung für den nachfolgenden Erfolg der Landstreitkräfte geschaffen wurde.

Die NATO sieht in diesem Zusammenhang nicht zuletzt eine geostrategische Unterlegenheit, wonach die USA im Falle eines konventionellen Konflikts in Europa größere Nachschubprobleme hätten als die Sowjetunion. Ein Argument, das auch für die Beibehaltung der Atomwaffen benutzt wird.

Wolfgang Schwarz: Es gibt zwei prinzipielle Asymmetrien zwischen NATO und Warschauer Vertrag, von denen eine die NATO und die andere den Warschauer Vertrag benachteiligt.

Die geostrategische Asymmetrie, die Frage des geringeren Raums in Westeuropa und der größeren Entfernung zum Hauptverbündeten, ist das Problem auf Seiten der NATO. Das ist sicher unter praktischen militärischen Gesichtspunkten nicht so dramatisch, wie es in der propagandistischen Überhöhung, da, wo es um medienwirksame Argumentation geht, dargestellt wird.

Wenn man sich die Verbindungswege aus der Sowjetunion nach Zentraleuropa ansieht, insbesondere die Landverbindungswege, dann gibt es nur sehr wenige durchgehende militärtransportfähige Eisenbahnverbindungen und sehr wenige Brücken, über die diese Transporte laufen können, Brücken, die unter militärischen Gesichtspunkten vorrangige. Ziele und leicht auszuschalten sind.

Dennoch muß man sich für diese geographische Asymmetrie etwas einfallen lassen.Die sozialistischen Staaten haben dem Rechnung getragen, indem sie den Behandlungsraum für konventionelle Streitkräfte und Rüstungen im Rahmen künftiger Verhandlungen bis zum Ural ausgedehnt haben.

Eine zweite Asymmetrie zwischen NATO und Warschauer Vertrag ist struktureller Natur, und sie benachteiligt die sozialistischen Staaten. Sie besteht darin, daß die Verbündeten der Sowjetunion, die sozialistischen Länder Europas, militärisch und auch ökonomisch gesehen ein sehr viel geringeres Eigengewicht haben als die größeren westeuropäischen Verbündeten der USA.

Wenn man ein Denkmodell nimmt, und sich in Zentraleuropa von sämtlichen ausländischen Truppen befreit vorstellt, dann bleibt übrig, daß sich die militärischen Kräfte zwischen Bundesrepublik und DDR etwa grob gerechnet in einem Verhätnis von 1:3 bewegen, untersetzt mit der stärkeren ökonomischen Leistungskraft der Bundesrepublik.

Das ist ein Problem, zu dem man sich im Zuge des weiteren Abrüstungsprozesses nach meinem Dafürhalten von westlicher Seite wird etwas einfallen lassen müssen. Denn es kann nicht sein, daß man die einen militärischen Asymmetrien — und hier sind nun diejenigen gemeint, die sich aus unterschiedlichen Beständen bestimmter konventioneller Großwaffensysteme auf beiden Seiten ergeben – beseitigt und zugleich andere Asymmetrien beläßt oder womöglich neue schafft, die dann wieder Unsicherheitsgefühle hervorrufen könnten.

Möglichkeiten, an die man denken könnte, wenn man dies in Rechnung stellen will, gibt es eine ganze Reihe. Man könnte z.B. den Abbau von konventionellen Asymmetrien zwischen NATO und Warschauer Vertrag damit koppeln, daß man an der Nahtstelle der Systeme Zonen, wie wir sie bereits angesprochen haben, einrichtet und damit lange Vorwarnzeiten schafft.

Das Ziel einer strukturellen Angriffsunfähigkeit ist sehr weitgefaßt. Ist ein solches Ziel überhaupt realistisch?

Wolfgang Schwarz: Eine Kursnahme auf beiderseitige Angriffsunfähigkeit stellt einen radikalen Bruch dar mit traditionellem militärischem Denken, mit 2500 Jahren Kriegsgeschichte. Dieser Bruch ist aber notwendig, weil wir in Europa heute unter Verhältnissen leben; die im Hinblick auf die Führbarkeit von Krieg ebenfalls einen vollständigen Bruch mit dem darstellen, was für die vornukleare Zeit galt. Es ist offensichtlich so, daß die menschliche Zivilisation im Zuge ihrer Entwicklung einen Punkt erreicht, und dieser Punkt ist in Europa nach meinem Dafürhalten überschritten, jenseits dessen sich Kriege nicht mehr führen lassen, weil sie, egal wie sie geführt werden, konventionell oder nuklear, zur vollständigen Zerstörung moderner Gesellschaften führen.

Wenn die NATO das auch so sehen würde, könnte das eine Motivation sein, in ernsthafte Verhandlungen einzusteigen?

Wolfgang Schwarz: Erkenntnismäßige Entwicklungsprozesse dahin sind seit einer Reihe von Jahren auch auf der westlichen Seite zu verzeichnen. Der Punkt ist, dies dahingehend politikwirksam zu machen, daß es in einen Abbau angriffsfähiger Streitkräfte und Strukturen umgesetzt werden kann, und das ist die Etappe, die wir vor uns haben. Hier liegen Defizite im übrigen meines Erachtens eindeutig auf westlicher Seite, wie das nach wie vor zu konstatierende Fehlen eines kollektiven Konzepts der NATO zur traditionellen Rüstungsbegrenzung und Abrüstung zeigt.

Bleibt noch eine Frage: Gibt es nach Herstellung einer strukturellen Nichtangriffsfähigkeit noch so etwas wie ein Restrisiko?

Wolfgang Schwarz:: Solange es militärische Kräfte noch in nennenswertem Umfang gibt und relativ unabhängig davon, wie sie unterhalb der strategischen und operativen Ebene strukturiert und ausgerüstet sind, werden sie immer über gewisse Angriffsmöglichkeiten verfügen, eben weil Waffensysteme und Streitkräfte ambivalenten Charakter haben.

Im Rahmen unserer politischen und militärischen Wissenschaften in den Staaten des Warschauer Vertrages diskutieren wir daher diese Probleme als Bestandteil unserer Konzeption für ein umfassendes System des Friedens und der internationalen Sicherheit, zu dem militärische Elemente ebenso gehören wie politische, ökonomische, ökologische und humanitäre. Unsere gesamten Überlegungen zu dem Problem Angriffsunfähigkeit sind eingeordnet in einen breiten Kontext, dessen Zielstellung es ist, zu einer qualitativen Umgestaltung der Ost-West-Beziehungen insgesamt zu kommen, von Konfrontation zu Kooperation. Im Rahmen einer solchen Umgestaltung, wo man im Hinblick auf gemeinsame Sicherheit; auch entsprechende politische, ökonomische, ökologische und humanitäre Strukturelemente einbezieht, wäre die Frage eines militärischen Restrisikos nach meinem Dafürhalten in der perspektivischen Zielstellung zu vernachlässigen. Dies wäre gegeben, wenn die Staaten des Warschauer Vertrags und der NATO — bei Wahrung ihres jeweiligen, gesellschaftspolitischen und sozialen Charakters — aus primär militärischen Gegnern zu primär Überlebenspartnern bei der Lösung der globalen Probleme der Menschheit geworden sind und ihr gegenseitiges Beziehungsverhältnis ein entsprechendes Gepräge angenommen hat. Einen solchen Wandel zu erreichen, ist ein grundlegendes Ziel der sozialistischen Staaten.


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