Ein Gespräch mit der jungen Israelin Elisha Baskin zur Solidarität mit Palästinensern

Desinvestition gehört zu meiner jüdischen Identität

von Rev. Patrick David Heery, leitender Redakteur von Unbound- justiceunbound.org

Elisha Baskin

06.07.2012 - Sie heißt Elisha Baskin. Sie ist Israelin. Sie ist Jüdin. Und sie unterstützt den Kapitalabzug aus Unternehmen, die die Besetzung von Palästina unterstützen.

Elisha wurde zwei Jahre, bevor die erste Intifada ausbrach, in Westjerusalem geboren und hat erlebt, wovon die meisten von uns nur gelesen haben. Elisha erlebte den Golfkrieg und die Zweite Intifada im Jahr 2000, als, so sagt sie, Jerusalem buchstäblich explodierte.

Elishas Geschichte: Sie stellt die herrschenden Narrationen infrage

Und doch wurde auch ihr Leben von der von den US-Medien so oft erzählten Narration bestimmt. Elishas Eltern ermutigten sie bewusst dazu, sich mit Palästinensern anzufreunden. Einerseits hatte sie Angst und Gewalt, der viele Israelis unterworfen waren, vor Augen, andererseits musste sie die Besetzung, die Zerstörung von Häusern, die Entwurzelung der Olivenbäume und die demütigende Verhaftung von Palästinensern mit ansehen.

In dieser Umwelt bin ich aufgewachsen, sagt sie. Es war eine Umwelt der Gewalt, aber auch der Freundschaft auf beiden Seiten und der unvermeidlichen Spannung, die sich entwickelt, wenn eine zu viele Menschen zu sehr liebt.

In Auschwitz entschied sich Elisha gegen den israelischen Militärdienst

In der elften Klasse reiste Elisha nach Polen, um die Konzentrationslager des Holocaust, der Schoah, zu besuchen. Dort, umgeben von den furchtbaren Folgen des Nationalsozialismus und der militarisierten Furcht, entschied Elisha, dass sie den israelischen Militärdienst nicht guten Gewissens leisten könne. Es war der Höhepunkt der Zweiten Intifada und Elisha war schon gemustert worden. Sie sollte verwundete Soldaten und deren Familien begleiten. Sie war in einem Dilemma: Sie wollte für diese Familien und verwundeten Soldaten sorgen, aber sie fragte sich: Wie könnte ich sie unterstützen, wenn ich in erster Linie denke, sie hätten überhaupt nicht an dem Ort sein sollen, wo sie verletzt worden sind?

Ich habe Menschen in den Ruinen ihrer Häuser, in denen Spielzeug und Möbel von den Trümmern zerdrückt worden waren, schlafen sehen. Dann schickte man ihnen auch noch Rechnungen für die Zerstörung ihrer Häuser!

Sie war weit davon entfernt, Israel mit Deutschland gleichzusetzen. Stattdessen fühlte sie, nachdem sie Leiden und Gewalt gesehen hatte, die ihr eigenes Volk erlitten hatte, eine neue Solidarität mit den Palästinensern.

Offiziell anerkannte Kriegsdienstverweigererin

Und mit dieser Solidarität trat Elisha vor das Kriegsverweigerer-Komitee der Armee. Ich dachte, ich muss ins Gefängnis, sagte Elisha, als sie erklärte, dass nur wenigen der Status als Kriegsverweigerer gewährt worden sei. Aber das Komitee hörte sich ihren Fall an. Sie sagte dort: Ich möchte der Gesellschaft dienen; ich möchte zwar dienen, aber auf zivile, nicht auf militärische Weise. Elisha sagt, es sei ein Glücksfall gewesen: Das Komitee billigte ihr den Status einer Kriegsdienstverweigererin zu. Sie wurde die erste Person in Israel, die bei Amnesty International eine anerkannte Zivildienststelle bekam.

Erst vor zwei Jahren kam Elisha in die Vereinigten Staaten, um an der Brandeis University ihre Promotionsarbeit zu schreiben. Dort engagierte sie sich bei Students for Justice in Palestine und Jewish Voice for Peace (JVP). Elisha spricht bemerkenswert liebevoll von JVP, so, als wäre es weniger eine Organisation als eine Familie. Elisha sagt: Ich habe mich in der jüdischen Gemeinschaft nie besonders heimisch gefühlt, aber das änderte sich mit ihrem Engagement bei JVP. Dort lernte sie – oft junge – Jüdinnen und Juden kennen, die sich weigerten, mit der israelischen Staatspolitik konform zu gehen.

Sie betont, dass ihre Meinungen eben nur Meinungen seien. Diese stellen nicht notwendig die offizielle Einstellung von JVP dar. Allerdings hat sich JVP positiv zum selektiven Kapitalabzug geäußert.

Als Elisha gefragt wurde, warum sie den Kapitalabzug unterstütze, sagte sie: Seit der Konflikt ausgebrochen ist, sind alle Möglichkeiten einer Lösung erschöpft worden. Ich sehe Kapitalabzug als letzten Ausweg. Er ist ein gewaltfreier Ausweg. Schließlich haben wir gesehen, dass alle Gewaltanwendung erfolglos war.

Die Unterdrückten entscheiden selbst über ihren Befreiungsplan

Für Elisha bedeutet das in erster Linie, dass die Unterdrückten selbst über ihren Befreiungsplan entscheiden: Wir wurden von den Kämpfenden zur Hilfe gerufen und es ist nicht meine Sache, die Grenzen ihrer Befreiung festzusetzen. Das sagt sie nicht zufällig: Wir sind gebeten worden. Sie drückt Frustration aus, als sie erklärt: Ich habe schon viel zu oft Leute (besonders im Westen) erlebt, die den Palästinensern sagen wollten, dass sie wüssten, was das Beste für sie sei … Die Stimmen der Palästinenser werden gehört, wir hören sie, und der [Kapitalabzug] ist genau das, was sie sagen. Ich habe die Nase voll vom bevormundenden Kolonial-Ansatz, mit dem wir den Leuten sagen, wie sie sich befreien sollen. Es sei höchste Zeit, sagt sie, den Mund zu halten und zuzuhören.

Wenn wir zuhören, werden wir einen wohldurchdachten strategischen Aufruf zum Kapitalabzug von den Palästinensern hören, der sowohl selektiv (d. h. kein pauschaler Boykott Israels) als auch von besonderen Richtlinien begleitet ist.

Ich habe Menschen in den Ruinen ihrer Häuser schlafen sehen

Für Elisha geht es auch um persönliche Erlebnisse: Ich habe Menschen in den Ruinen ihrer Häuser, in denen Spielzeug und Möbel von den Trümmern zerdrückt worden waren, schlafen sehen. Dann schickte man ihnen auch noch Rechnungen für die Zerstörung ihrer Häuser! Strafmaßnahmen, wie sie in Ostjerusalem üblich sind, wo, sagt sie, es fast unmöglich sei, eine Wohngenehmigung zu bekommen, und deshalb bei der geringsten Provokation, z. B. wenn man einen Balkon an ein Haus anbaut, befohlen wird, dass Häuser zerstört werden.

Sie hat gesehen, dass Olivenbäume aus dem Boden ausgegraben und um Rondelle in Israel wieder eingepflanzt wurden, Bäume, die, so erklärt sie, für die Bauern so wichtig seien wie die Dächer über ihrem Kopf. Sie stellen mehr als nur ein Einkommen dar, mehr sogar als den Unterschied dazwischen, ob man etwas zu essen hat oder hungert, sie sind ganz buchstäblich ihre letzten Wurzeln, die Wurzeln, die sie mit ihrem Land verbinden.

Niemand sollte sein Geld dort investiert haben

Niemand”, sagt Elisha, sollte sein Geld dort investiert haben. Schon gar nicht eine Kirche. Die Zerstörungen, Verhaftungen und andere Taten werden noch nicht einmal versteckt. Sie finden bei hellem Tageslicht statt, sodass sie jeder sehen kann. Für Elisha ist es klar; diese [Bulldozers] sind Waffen. Und das wird im Namen der Sicherheit gemacht! Es erfüllt allerdings nicht meine Sicherheitsbedürfnisse!

Ebenso wenig stellt es für Elisha den jüdischen Glauben dar. Die Geschichte des jüdischen Volkes, sagt Elisha überzeugt, ist eine Geschichte der Unterdrückung. Wir wissen, was es bedeutet, eine Minorität und verletzbar zu sein. Außerdem ist es eine Geschichte der Solidarität mit dem Fremden und dem anderen. Das werde an der bedeutsamen Rolle deutlich, die die Juden in der Arbeiterbewegung und der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten gespielt hätten. Jüdisch sein heiße auf der Seite der Unterdrückten zu sein, und sie fügt hinzu: kritisch zu sein und Fragen zu stellen.

Deshalb ist Elisha entsetzt, wenn sie Leute behaupten hört, Kapitalabzug würde die Beziehungen zwischen den Religionen behindern. Welche Art von Beziehung, so fragt sie, gründet sich denn wohl auf Schweigen und eine Unfähigkeit zum Gespräch, selbst wenn man in wichtigen Fragen verschiedener Meinung ist? Welche Art von Beziehung, so fragt sie, gründet sich auf die Drohung, die Freundschaft aufzukündigen? Wäre nicht die stärkere Beziehung, so fährt sie fort, eine, die sich auf gegenseitige Hingabe an Gerechtigkeit und Solidarität mit den Unterdrückten gründete? Die Beziehung von JVP zur Presbyterianischen Kirche ist eben dafür ein Zeugnis. Und die Beziehung, so sagt sie, zwischen einigen etablierten jüdischen Behörden und christlichen Fundamentalisten bzw. Zionisten ist ein Zeugnis dafür, wie falsch Beziehungen zwischen den Religionen laufen können.

Es gibt viele, nicht nur zwei, Einstellungen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft

Es geht ihr auch darum, dass die jüdische Gemeinschaft über dieses Thema verschiedener Meinung ist. Es gibt viele, nicht nur zwei, Einstellungen innerhalb ihrer Gemeinschaft. Und es sei, so glaubt sie, antisemitisch, wenn man sagt, dass alle Juden über Desinvestition derselben Meinung sind. Damit wird angenommen, dass alle Juden einen einzigen und angeborenen Charakterzug hätten.

Mit allem dem will sie die Realität der Ängste, die Israelis und andere Juden in der ganzen Welt erfahren haben, nicht infrage stellen. Elisha bietet stattdessen einen Appell an, die Unstimmigkeiten zu beenden: die Unstimmigkeiten zwischen dem Auftrag der Schrift, Gerechtigkeit zu suchen, und der Weigerung zum Kapitalabzug durch die Christen, die Unstimmigkeit zwischen der Erfahrung von Leiden im Exil der Palästinenser und einer Erziehung, die vielfach eine ähnliche Erfahrung der Juden verkleinert oder sogar überdeckt, und die Unstimmigkeit zwischen der jüdischen Geschichte und der politischen Entscheidung, die viele Juden zurzeit treffen.

Wenn wir die Geschichte der jeweils anderen kennenlernen, beginnen wir, einander näherzukommen.

Hier gibt es Hoffnung für Elisha. Nicht dass die Leiden gleich groß oder identisch wären, so sagt sie, aber beide sind real: die der Israelis und die der Palästinenser: Wenn wir die Geschichte der jeweils anderen kennenlernen, beginnen wir, einander näherzukommen. Aber – und aus diesem Grund ist Kapitalabzug als Mittel, die Unterdrückung der Palästinenser durch die Israelis zu beenden, so wesentlich – dieses Sich-gegenseitig-Geschichten-Erzählen, dieses Gespräch über Geschichte und Erfahrung, kann erst stattfinden, wenn die Menschen gleiche Stimme am Tisch haben, wenn es nicht mehr ein Gespräch zwischen Besetzern und Besetzten, sondern ein Gespräch zwischen Bewohnern eines gemeinsamen, allen heiligen Landes ist.  


Patrick David Heery

Rev. Patrick David Heery ist ordinierter Pastor der Presbyterianischen Kirche (USA) und leitender Redakteur von Unbound. Patrick erwarb seinen Master in Theologie am Princeton Theological Seminary. Er reiste 2006 mit der Gemeinde einer jüdischen Synagoge nach Israel und Palästina, arbeitete für Amnesty International mit an der Untersuchung der Menschenrechts-Belange des Konflikts zwischen Israel, Palästina und Libanon und war Assistant Director and Community Discussion Coordinator for Ohio University’s Difficult Dialogues Program, ein Programm für schwierige Gespräche, zu denen Juden, Muslime, Christen, Hindus, Buddhisten, Unitarier und Vertreter weiterer religiöser Gemeinschaften zusammenkamen.

Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler

Die Veröffentlichung des Beitrages in aixpaix.de erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Patrick David Heery und Elisha Baskin.

Der Originalbeitrag in "Unbound"






World Wide Web aixpaix.de

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