Projekt Münchhausen

Hannes Wader

Es ist an der Zeit

Weit in der Champagne im Mittsommergrün,
dort wo zwischen Grabkreuzen Mohnblumen blühn,
da flüstern die Gräser und wiegen sich leicht,
im Wind der sanft über das Gräberfeld streicht.

Auf deinem Kreuz finde ich toter Soldat,
deinen Namen nicht, nur Ziffern und jemand hat die Zahl 1900 und 16 gemalt und du warst nicht einmal 19 Jahre alt.

Ja auch dich haben sie schon genauso belogen, so wie sie es mit uns heute immer noch tun.
Und du hast ihnen alles gegeben, deine Kraft, deine Jugend, dein Leben.

Lügengeschichte des Monats Oktober 2015

Karl Grobe

Katyn

Am 23. August 1939 unterzeichneten die Außenminister Wjatscheslaw Molotow und Joachim von Ribbentrop in Moskau einen Nichtangriffspakt und ein geheimes Zusatzprotokoll. Dieser deutsch-sowjetische Pakt, nach den Anführern beider Staaten auch Hitler-Stalin-Pakt genannt, sicherte dem Deutschen Reich für den längst geplanten, generalstabsmäßig durchgeplanten Krieg gegen Polen die Neutralität der Sowjetunion zu.

Das Geheimprotokoll teilte Polen zwischen Deutschland und Sowjetunion auf und legte eine Grenzlinie von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer zwischen den „Einflusszonen“ beider fest. Einmal noch wurde die Grenzlinie verschoben: Litauen, zunächst in der deutschen Einflusszone, wurde fünf Wochen danach der Sowjetunion übergeben.

Am 1. September überfiel die Wehrmacht Polen. Am 17. September – noch widerstanden polnische Truppen den deutschen Invasoren – marschierte die RoteArmee in Ost-Polenein, bis zu jener Grenze, die im Geheimprotokoll vom 23. August definiert worden war; eine sowjetische Kriegserklärung gab es nicht, sondern die Argumentation, weil der polnische Staat faktisch nicht mehr bestehe, solle nunmehr die Rote Armee die weißrussischen und ukrainischen Bewohner Ostpolens schützen. Etwa 250.000 polnische Soldaten ergaben sich der Roten Armee, davon wenigstens 25.000 Offiziere.

Am 5. März 1940 teilte das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten – bekannt unter der russischen Abkürzung NKWD – dem Genossen Stalin mit, eine „große Anzahl ehemaliger Offiziere der polnischen Armee und Geheimdienste, Mitglieder polnischer nationalistischer konterrevolutionärer Parteien, Mitglieder bekannter konterrevolutionärer Widerstandsgruppen, Flüchtlinge und andere, sämtlich geschworene Feinde der Sowjetmacht“ würden in Gefangenenlagern des NKWD in den Westprovinzen der Ukraine und Weißrusslands – dem nach dem 17. September 1941 besetzten Gebiet– festgehalten. Sie „warteten nur auf ihre Freilassung, um aktiv gegen die Sowjetmacht zu kämpfen“. NKWD-Chef (Innenminister) Lawrentij Berija unterschrieb den Bericht und empfahl die „Anwendung des höchstenStrafmaßes“ in einem „ speziellen Verfahren ohne Vorladungen, Angabe von Beschuldigungen Voruntersuchungen und ohne Anklage zu erheben“ .Alle Mitglieder der engeren Führung zeichneten das Papier ab: Stalin, Woroschilow, Molotow, Mikojan, Kalinin, Kaganowitsch.

Einen Monat später begann der Abtransport der Gefangenen in Richtung Osten. Es begann zugleich die summarische Erschießung polnischer Offiziere, Geistlicher und Beamter, Ärzte und Intellektueller. Diese waren zunächst – oft mit dem Status von Reserveoffizieren – in den neubesetzten (im Hitler-Stalin-Pakt der Sowjetunion zugesprochenen) Gebieten interniert worden. Diese Gebiete wurden umgehend in die Sowjetrepubliken Ukraine und Weißrussland integriert. Sie umfassten über die Hälfte des bisherigen polnischenStaates, die Mehrheit der Einwohner waren aber Weißrussen, Ukrainer und Juden, während die Oberschicht polnisch und katholisch war. Es war der neuen Staatsmacht daran gelegen, jeglichen Widerstand der bis dahin herrschenden Eliten gründlich auszuschalten. Daher waren ihre Mitglieder zu liquidieren.

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) erkundigte sich die polnische Exilregierung bei Stalin nach dem Verbleib von rund 25.000 Offizieren; (Exil-) Polen und die Sowjetunion waren jetzt ja verbündet. Stalin erklärte, er wisse es nicht.

Am 13.April 1943 sendete der Großdeutsche Rundfunk diese Nachricht: „ Aus Smolensk wird berichtet, dass die einheimische Bevölkerung den deutschen Behörden einen Ort angezeigt hat, wo die Bolschewisten heimlich Massenexekutionen durchgeführt haben und wo die GPU zehntausend polnische Offiziere umgebracht hat“. GPU ist der Name der Vorgänger-Organisation des NKWD. Ebenfalls am13. April 1943 meldete das Deutsche Nachrichtenbüro (DNB): „ Ein grauenvoller Fund, der vor kurzem von deutschen militärischen Stellen im Wald von Katyn am Kosegory-Hügel, 20 Kilometer westlich von Smolensk an der Straße Smolensk-Witebsk, gemacht wurde, gibt einen ebenso erschütternden wie einwandfreien Aufschluß über den Massenmord an mehr als 10.000Offizieren aller Grade, darunter zahlreiche Generale der ehemaligen polnischen Wehrmacht.“ Die Toten seien durch Genickschuss getötet worden und hätten mit dem Gesicht nach unten gelegen, hieß es in weiteren Berichten.

Die Exilregierung wurde sofort in Moskau vorstellig – mit dem Ergebnis, dass die Sowjetregierung die Beziehungen abbrach und ihrerseits erklärte: „Bereits seit zwei Wochen verbreitet die deutsche Regierung lügnerische Behauptungen über die UdSSR, und zwar aus dem Grund, um die Freundschaft zwischen Polen und der UdSSR zu untergraben. In polnischen Regierungskreisen wurden die deutschen Behauptungen leider benützt, um seither auch einen Feldzug im Radio und in der Presse gegen die UdSSR zu eröffnen. Während die Sowjetunion alle ihreKräfte anspannt, um den gemeinsamen Feind des polnischen und russischenVolkes zu vernichten, fällt die polnische Regierung der Sowjetunion in den Rücken.“

Die sowjetamtliche Version (Dokument USSR-64, an anderer Stelle zitiert als USSR-54) trug der Ankläger Oberst Pokrowski am 14.2.1946, am 59. Verhandlungstag des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals, vor:

„Im Walde von Katyn wurden von den deutschen Okkupationsbehörden im Herbst 1941 Massenerschießungen an polnischen Kriegsgefangenen aus den obengenannten Lagern begangen. Die Massenerschießungen der polnischen Kriegsgefangenen im Walde von Katyn wurden von einer deutschen Militärbehörde ausgeführt, die sich unter dem Decknamen ,Stab des Baubataillons 537’ verborgen hielt, und an deren Spitze der Oberleutnant Arnes und seine Mitarbeiter, Oberleutnant Rex und Leutnant Hott, standen. ...Die deutschen Besatzungsbehörden haben im Frühjahr 1943 aus anderen Orten die Leichen der von ihnen erschossenen kriegsgefangenen Polen herbeigeschafft und sie in die ausgehobenen Gräber des Waldes von Katyn gelegt, um die Spur ihrer eigenen Bestialität zu verwischen und die Zahl der 'Opfer der bolschewistischen Bestialitäten’ im Walde von Katynzu vergrößern. … In dem die deutsch-faschistischen Eindringlinge die polnischen Kriegsgefangenen im Wald von Katyn erschossen, führten sie folgerichtig ihre Politik der physischen Ausrottung der slawischen Völker durch.“

Und das war die Lüge.

Das Internationale Militärtribunal hatte über deutsche Kriegsverbrechen zu befinden. Es fällte im Fall Katyn kein Urteil, aber eben auch keinen Freispruch. Die relevanten sowjetischen (russischen) Archive blieben bis in die Glasnost-Zeit verschlossen.

Doch schon 1945, vor dem Nürnberger Prozess, hatte der US-Oberleutnant John H. Van Vliet Jr. Sechs Gruppen von Indizien und Beweisen genannt, die eine deutsche Täterschaft im Jahre 1943 ausschlossen, vom Baumbestand auf der Exekutionsstätte bis zu (1943 längst ungültigen) Banknoten unddem Datum nicht abgeschickter Briefe, die bei den Leichen gefunden wurden – keins später als 22.April1940. Van Vliet war mit anderen alliierten Kriegsgefangenen von deutscher Seite nach Katyn gebracht worden und gab seine Beobachtungen einem Ausschuss des US-Repräsentantenhauses zu Protokoll.

Der militärische Abwehrdienst der USA erklärte ihn zur Geheimsache, „aus Sorge, die Sowjetunion werde sonst nicht am Kampf gegen Japan teilnehmen und auchnicht den Vereinten Nationen beitreten“, wie der Kongress 1952 feststellte. In jenem Jahr zitierte jedoch bereits der „Spiegel“ ausführlich daraus.

Die Lüge von der sowjetischen Unschuld hielt sich bis 1990. Doch auch der Glasnost-Erfinder Michail Gorbatschow hielt den Liquidierungsbefehl Stalins noch zurück, übergab aber der polnischen Regierung am 18. April 1990 die vollständigenExekutionslisten. Erst Boris Jelzin ließ die volle Wahrheit heraus. Am 14. Oktober 1992 ließ er dem polnischen Staatschef Lech Walesa das Original des Liquidierungsbefehls vom 5.3.1940 überreichen.

Die russischen Archive sind inzwischen wieder verschlossen, die russische Rechtsprechung erklärt sich für nicht zuständig, weil die Angelegenheit erstens verjährt sei und zweitens Russland und Sowjetunion zweierlei seien. Dies klingt spitzfindig, entspricht aber dem unter Präsident Putin gepflegten Geschichtsverständnis 75 Jahre nachher.

Doch eine überaus makabre Pointe hat die Angelegenheit noch. Am10. April 2010 wollte Polens Staatspräsident Lech Kaczynski an der Spitze einer Delegation von rund 90 hohen polnischen Funktionsträgern zu einer Gedenkstunde die Stätte besuchen, an der eine feindliche Macht einen großen Teil der intellektuellen, politischen, kulturellen und militärischen Elite Polens ermordet hatte. Eine von mehreren Gedenkstätten, doch die mit dem größten symbolischen Gehalt.

Das Regierungsflugzeug stürzte beim Landeanflug nahe Katyn ab. Ein beträchtlicher Teil der polnischen Elite kam dabei ums Leben.

Literatur:

Thomas Urban: Geschichte eines Verbrechens. München (Beck)2015.

Claudia Weber: Krieg der Täter. Die Massenerschießungen von Katyń. Hamburg (Hamburger Edition) 2015.

Jürgen Roth: Verschlussakte S. Smolensk, MH17 und Putins Krieg in der Ukraine. Berlin (Econ) 2015.

Victor Zaslavsky: Klassensäuberung. Das Massaker vonKatyn. Berlin (Wagenbach) 2007.

Gerd Kaiser: Katyn. Das Staatsverbrechen – das Staatsgeheimnis. Berlin(Aufbau)2002.

Czesław Madajczyk: Das Drama von Katyn. Berlin (Dietz) 1991.

Der Liquidierungsbefehl ist u.a. in englischer Sprache abgedruckt in: Katyn Forest Massacre. http://www.katyn.org.au/, abgerufen 4.5.2015

Der Nürnberger Prozeß. Das Protokoll des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof 4. November 1945 – 1. Oktober 1946. Zu Katyn. Bd. 7, S. 445ff, auf CD: DerNürnbergerProzess, Digitale Bibliothek Bd. 20. Vgl. auch Joe J. Heydecker / Johannes Leeb, Der Nürnberger Prozeß. Bilanz der tausend Jahre. Frankfurt a.M. (Büchergilde)1960,S. 402ff.


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Jeder Stifter einer Weltreligion verhieß Frieden, und zwar im Diesseits, zu erreichen durch Toleranz, Barmherzigkeit, Menschlichkeit. Staatsgründer taten es ihnen gleich und schrieben in ihre Grundgesetze: All men are created equal (Unabhängigkeitserklärung der USA). Großartige, kluge Worte. Und doch ist die menschliche Geschichte geprägt von Gewalt und Krieg, deren Beute von wenigen eingesackt wurde und dessen Leid von den Vielen getragen werden musste.

Wie gelang es und gelingt es in fast allen Gesellschaftsformationen, die Menschen gegeneinander in Stellung und zu Mord und Totschlag zu bringen und dies noch als gute und ehrenvolle Taten zu verkaufen? Die Massenmörder schrieben und schreiben die Geschichte, sie ließen sich den Titel ‚Der Große’ zumessen, und der Tod auf dem Schlachtfeld wurde zum Heldentod verklärt, während die ‚Kollateralschäden’ ignoriert wurden. Interessen obsiegen über Ethik und Moral.

Das Projekt Münchhausen fordert alle auf, die Geschichten der großen und kleinen Kriegslügen zu erzählen, mit denen die Menschen zur Gewalt gegen einander verführt wurden – von den Kreuzzügen, über den angeblich Gerechten Krieg, den Tonking-Zwischenfall an den Küsten Vietnams, bis zur dreisten Lüge des US-Außenministers über die Atombomben des Saddam Hussein und dem Militär als letztem Mittel der angeblich Humanitären Intervention?

Wir müssen uns befreien von dem Spinnengewebe der Lügen und Legitimationsideologien, die unsere Mitmenschen zu Feinden und Feindbildern und uns zu Gewalt gegen sie in der globalisierten Gesellschaft machen wollen. Das Projekt Münchhausen soll dazu einen Beitrag leisten.