Interview mit dem afghanischen Stammesführer Naqibullah Shorish

Eine Friedenslösung für Afghanistan ist immer noch möglich, aber die Uhr tickt

Otmar Steinbicker (l.) und Naqibullah Shorish in Aachen. Foto: Harald Krömer

12.06.2013 – Das Jahr 2014 mit dem angekündigten Abzug der NATO-Kampftruppen naht mit Riesenschritten. Gibt es noch eine Chance für den Frieden oder wird Afghanistan im Bürgerkrieg versinken? aixpaix.de-Herausgeber Otmar Steinbicker führte mit Naqibullah Shorish, dem wichtigsten Stammesführer Afghanistans, ein langes Gespräch über die aktuelle Situation, über Geheimgespräche mit den Taliban im Jahr 2010 und über verbleibende Chancen.

aixpaix.de: Die NATO hat für 2014 den Abzug zumindest des Großteils ihrer Kampftruppen in Aussicht gestellt. Sind Sie froh und erleichtert?

Naqibullah Shorish: Nein, überhaupt nicht! Der mehr als zehnjährige Krieg der NATO in Afghanistan hat für unser Land eine Menge Probleme mit sich gebracht. Diese sind seit Jahren bekannt und es gibt seit jeher viele offene Fragen, wie dieser Krieg enden wird und wie Afghanistan danach aussehen wird. All diese Probleme stehen ungelöst im Raum. Die NATO hat sie seit Jahren vor sich hergeschoben. Sie stehen jetzt vor dem angekündigten Abzug genau so offen im Raum wie seit Jahren zuvor.

aixpaix.de: Fürchten Sie einen Bürgerkrieg nach dem Abzug der NATO-Truppen?

Naqibullah Shorish: Die Afghanen sind nach fast 35 Jahren Krieg absolut kriegsmüde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Afghane in dieser Situation Interesse an einer Weiterführung des Krieges oder an einem neuen Krieg mit anderen Frontkonstellationen hätte. Aber das beantwortet die Frage nicht vollständig, ob es zu einem Bürgerkrieg kommt oder nicht.

aixpaix.de: Wenn die Afghanen kein Interesse am Krieg haben, wie soll es dann zu einem Bürgerkrieg kommen können?

Naqibullah Shorish: Die NATO hat mit der Besetzung Afghanistans Verantwortung für unser Land übernommen und sie ist dieser Verantwortung nicht gerecht geworden. Sie kann die Sicherheit unseres Landes nicht garantieren und sein Territorium nicht verteidigen. Sie hat zahlreiche Probleme geschaffen, die Konfliktstoff zwischen den Afghanen bilden. Sie hat nichts getan, um diese Probleme aus der Welt zu schaffen und sie hat den Nachbarländern Afghanistans Möglichkeiten geboten, sich in die inneren Angelegenheiten unseres Landes einzumischen – auch mit der Förderung von Gewalttaten. Das ist eine gefährliche Mischung, die eventuell auch zu einem Bürgerkrieg führen kann. Aber noch besteht die Möglichkeit, einen solchen Krieg zu verhindern.

aixpaix.de: Sie sehen zur Verhinderung eines Bürgerkrieges als erstes die NATO in der Pflicht?

Naqibullah Shorish: Ja. Die NATO muss abziehen, damit Afghanistan endlich Frieden finden kann, aber sie muss das Land so hinterlassen, es Voraussetzungen für eine friedliche Entwicklung gibt und dass es nicht zu einer Situation wie vor 2001 kommt.

aixpaix.de: Was ist das Hauptproblem?

Naqibullah Shorish: Die NATO hat die afghanischen Sicherheitskräfte – Armee, Polizei und Milizen – auf 350.000 Mann hochgerüstet und ausgebildet. Diese kann Afghanistan nicht bezahlen und die will die NATO auch nicht gerne weiter bezahlen. Damit stellt sich ein Riesenproblem! Diese Kräfte können Afghanistans Sicherheit nicht gewährleisten. Das sehen wir heute und das werden wir nach dem Abzug der NATO-Kampftruppen noch deutlicher sehen. Aber diese Kräfte können zu einer ernsthaften Gefahr für die Sicherheit Afghanistans werden, wenn sie nicht korrekt demobilisiert werden mit ernsthaften zivilen beruflichen Perspektiven für jeden Einzelnen. Die einzelnen Soldaten, Polizisten und Milizionäre haben doch vielfach nichts anderes gelernt als mit der Waffe umzugehen. Sie geordnet ins Zivilleben zu integrieren kostet Geld, das in eine wirtschaftliche Entwicklung investiert werden muss, die Arbeitsplätze schafft. Das Problem verschärft sich noch, wenn wir daran denken müssen, auch noch eine unbekannte Zahl von Taliban-Kämpfern und Angehöriger diverser privater Milizen zu entwaffnen und zu demobilisieren.

Zum anderen verfügt unsere Armee über keine modernen Waffen. Mit Kalaschnikows kann sich Afghanistan nicht gegen eine militärische Einmischung aus den Nachbarländern und gegen Al Kaida verteidigen.

aixpaix.de: In Deutschland sorgt man sich um die afghanischen Dolmetscher, die die Bundeswehr angeheuert hat und die um ihr Leben fürchten, wenn die Bundeswehr abzieht. Deutschland möchte diesen Leuten, die für die Bundeswehr gearbeitet haben, ungern Visa ausstellen.

Naqibullah Shorish: Ich verstehe, dass dieses Problem in Deutschland und auch in Großbritannien stärker diskutiert wird. Aber es werden nicht nur die Dolmetscher allein gelassen, sondern alle Afghanen. Es ist eines von vielen Problemen, die die NATO hinterlassen hat. Selbstverständlich muss diesen Leuten geholfen werden. Sie brauchen existenzielle Sicherheit und unser Land braucht solche Leute für den Aufbau. Möglicherweise hat da auch der eine oder andere Angst, weil er vielleicht andere angeschwärzt hat oder andere das von ihm unberechtigt denken könnte.

Die NATO-Länder sagen: Wir lassen Afghanistan nicht allein. Aber wie wollen sie uns helfen? Mit einer solch korrupten Regierung wie der von Karsai werden nur Probleme geschaffen und das Land driftet in Richtung Bürgerkrieg. Wenn es nach den Plänen der NATO geht, wird auch die künftige Regierung wieder aus Leuten gebildet, die an der heutigen Karsai-Regierung beteiligt sind und den Weltrekord in Korruption halten.

Aber da haben wir noch sehr viel größere Probleme zu lösen: Wie gehen wir mit Kriegsverbrechern um, wie mit denen die Blut an den Händen haben, die sich auf die eine oder andere Weise schuldig gemacht haben? Wir können sicherlich viel lernen, wenn wir die Erfahrungen anderer Länder mit diesem Problem studieren. Am Ende müssen wir eine Lösung finden, die von den Afghanen verstanden und akzeptiert wird. Das muss ein Konsens Regeln für alle gleichermaßen gelten. Solche Fragen müssen geklärt sein, bevor die NATO abgezogen ist. Darüber müssen wir Afghanen hier und jetzt reden, wenn wir Konfrontationen vermeiden wollen, die am Ende zu einem Bürgerkrieg beitragen könnten. Wir müssen da zu einem.

aixpaix.de: Die afghanische Regierung unter Präsident Karzai hat schon vor Jahren einen Hohen Friedensrat einberufen, der die Konflikte unter den Afghanen klären und auch eine Friedenslösung mit den Taliban finden soll. Warum geht dieses Projekt nicht voran?

Naqibullah Shorish: Dieses Projekt war ein bewusst kalkulierter Fehlstart. Bei seinem Start wussten alle Beteiligten, dass es scheitern musste. Und wenn die Beteiligten das wussten, heißt das auch, dass sie es bewusst scheitern lassen wollten.

aixpaix.de: Das ist ein sehr schwerer Vorwurf.

Naqibullah Shorish: Ja. Jeder, der sich mit der Beendigung von Kriegen beschäftigt hat, weiß, dass es in der Regel zwei Möglichkeiten gibt: Entweder Sieger und Besiegte oder eine Verhandlungslösung unter neutraler, meist ausländischer Vermittlung. In Afghanistan wurde keine neutrale Vermittlung gesucht, sondern die Regierung mit der Führung der "Friedensgespräche" beauftragt und mit der Leitung dieses "Friedensrates" wurde auch noch ausgerechnet einer der größten und von den aufständischen Taliban meistgehassten Kriegsverbrecher, Rabbani, beauftragt. Deutlicher konnte man den Taliban nicht sagen: Wir wollen keinen Frieden mit Euch, wir wollen Eure Kapitulation. Die Antwort war damit vorprogrammiert.

Die afghanische Zeitung Mehwar hat am 5. Juni 2013 berichtet, dass viele Stammesführer in den südwestlichen Provinzen und auch das Mitglied des Hohen Friedensrates Musa Khan Hotak, darüber klagen, dass von den Gouverneuren und Armeekommandeuren die Zahl der Talibankämpfer, die im Rahmen des nationalen Reintegrationsprogrammes ihre Gewehre abgeben nach oben verfälscht wird. Wir Afghanen wissen auch, dass einige Taliban Prämien kassieren dafür, dass sie defekte Waffen abgeben und danach in die Stützpunkte der Taliban zurückkehren. Die NATO berichtet von derzeit 40.000 Taliban-Kämpfern. 2008 und 2009 war die NATO noch von etwa 24.000 Taliban-Kämpfern ausgegangen.

aixpaix.de: Gab es ernsthafte Alternativen für eine Friedenslösung?

Naqibullah Shorish: Herr Steinbicker, erinnern Sie sich noch daran, wie wir beide am 23. September 2009 im NATO Joint Force Command in Brunssum, das den ISAF-Einsatz in Afghanistan leitet, dem damaligen Oberkommandierenden, General Egon Ramms, einen regionalen Waffenstillstand für Kundus vorgeschlagen haben?

aixpaix.de: Ja, General Ramms sagte damals zu meiner Verwunderung spontan sinngemäß Das machen wir! Wir fangen mit dem Waffenstillstand in Kundus an und wenn der dort funktioniert, weiten wir ihn nach und nach auf ganz Afghanistan aus. Wenige Tage später schickte mir sein Adjutant per email eine Kopie seiner Korrespondenz mit dem Einsatzführungskommando in Potsdam, das die erforderlichen Gespräche zwischen dem deutschen Kommando in Kundus und den regionalen Taliban-Führern in die Wege leiten sollte. In dieser Email aus Brunssum nach Potsdam wurden wir beide mit unseren Kontaktdaten als Vermittler benannt.

Naqibullah Shorish: Ich hatte kurz darauf, noch im Oktober 2009 im ISAF-Hauptquartier in Kabul ein ebenso interessantes Gespräch mit dem britischen 3-Sterne-General Graeme Lamb. Der sagte mir, dass die britische Armee bisher jeden Krieg in Afghanistan verloren hätte und auch diesen verlieren würde, weshalb er sehr für einen Waffenstillstand und ein Kriegsende wäre. Monate später – im April 2010 – bat mich einer seiner Offiziere per email um die Fortsetzung unserer Diskussion über einen Waffenstillstand mit General Ramms.

aixpaix.de: Das war der Auftakt für anfangs indirekte, später direkte Gespräche zwischen NATO und Taliban?

Naqibullah Shorish: Ja, aber es gab zwischendrin noch einen anderen interessanten Strang der Debatte – unsere Diskussion mit Bernd Mützelburg, dem damaligen Sonderbeauftragten des Auswärtigen Amtes für Afghanistan und Pakistan im März 2010 Mützelburg war von unserem Waffenstillstandsvorschlag gar nicht begeistert und das mit einem erstaunlichen Argument: Die Realisierung von Provinz zu Provinz dauerte ihm zulange und er wollte gerne sofort mit den Taliban verhandeln. Wenn die am Ende der Sicherung wichtiger Menschenrechte und explizit auch Frauenrechte zustimmten, dann sollte unterschrieben und die Truppen abgezogen werden.

Als ich der Taliban-Führung von diesem Vorschlag berichtete, waren deren Vertreter sehr interessiert und fragten: Was will der Herr Mützelburg von uns? Welchen Positionen sollen wir zustimmen? Nach einigen Debatten stimmte die Taliban-Führung Anfang Juni 2010 einer 11-Punkte-Erklärung zu, die ausdrücklich die UNO-Menschenrechtserklärung anerkannte als auch das Recht der Frauen auf Ausbildung, Berufsausübung und politische Betätigung! Das war bis dahin von kaum jemand für möglich gehalten worden.

aixpaix.de: Welchen Wert haben solche Absichtserklärungen im Zweifelsfall?

Naqibullah Shorish: Sie sind wichtige Punkte für Gespräche und Verhandlungen. Da müssen die Taliban dann zeigen, wie ernst sie es mit diesen Aussagen meinen. Dass es inzwischen ich in Taliban-kontrollierten Gebieten Mädchenschulen gibt, wurde mir im Übrigen im September 2011 im Auswärtigen Amt vom Leiter des dortigen Afghanistan-Stabes bestätigt. Das hätten eigene Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes ergeben. Da haben die Taliban offensichtlich Wort gehalten.

aixpaix.de: Mitte Juli 2010 gab es dann erstmalig Direktgespräche zwischen NATO-Offizieren und Talibanführern?

Naqibullah Shorish: Ja, zwei regionale Kommandeure und ein direkter Abgesandter von Mullah Omar waren nach Kabul gekommen und ich bin mit ihnen, wie vereinbart, zum Camp Warehouse gefahren. Als wir ankamen, war gerade General Petraeus, der Oberbefehlshaber der US- und der ISAF-Truppen in Camp Warehouse eingetroffen und er näherte sich uns bis auf etwa 200 Meter. Die Taliban hatten einen mächtigen Schrecken bekommen. Mein Eindruck war, dass Petraeus neugierig war, die Taliban-Delegierten mit eigenen Augen zu sehen.

aixpaix.de: Wer hat an den Gesprächen auf ISAF-Seite teilgenommen?

Naqibullah Shorish: Zwei deutsche Oberstleutnants, ein britischer und ein US-Offizier.

Naqibullah Shorish. Foto: Harald Krömer

aixpaix.de: Wie verlief die Diskussion inhaltlich?

Naqibullah Shorish: Ich war sehr erstaunt, wie konstruktiv die Diskussion war und wie schnell man zum Kern des Problems kam: Es ging um eine Übergangslösung für Afghanistan nach dem Abzug der NATO-Truppen. Es war allen klar, dass es da viele schwierige Fragen zu lösen gibt und dass man sofort damit anfangen muss. Aufgrund der guten inhaltlichen Diskussion fand Mitte August ein weiteres Treffen statt, bei dem beide Seiten zu detaillierteren gemeinsamen Ergebnissen kamen.

aixpaix.de: Gemeinsame Vorschläge von NATO-Offizieren und Taliban-Führern für den Übergang in die Zukunft Afghanistans?

Naqibullah Shorish: Erstaunlicherweise ja! Beide Seiten kamen zu dem gemeinsamen Ergebnis, dass in einer konkreten Provinz im Osten Afghanistans eine Übergangsregierung eingerichtet werden sollte. Regierungsmitglieder sollten Persönlichkeiten sein, die bisher nicht direkt zu den Konfliktparteien gehörten. Die eine Hälfte von ihnen sollten das Vertrauen der Karzai-Regierung genießen, die andere Hälfte das Vertrauen der Taliban. Selbstverständlich sollte sofort ein Waffenstillstand vereinbart werden und in einer zweiten Phase auch gemeinsame Sicherheitsstrukturen aus bisheriger Armee, Polizei und Taliban-Kämpfern aufgebaut werden.

Ein ganz wichtiger Aspekt war, dass die ISAF diese Provinz als neutrale Provinz respektieren sollte. Damit sollte gewährleistet werden, dass die Taliban-Führung aus Pakistan dorthin umziehen konnte. Damit sollten die Taliban dem unmittelbaren Zugriff des pakistanischen Geheimdienstes ISI entzogen werden.

Damit wurden von beiden Seiten zwei ganz wichtige von uns eingebrachte Aspekte aufgenommen: der Waffenstillstand als Voraussetzung für sinnvolle Verhandlungen und der regionale Ansatz, um ein Testfeld für die Vertrauensbildung zu haben. Uns allen war klar, dass ein solches Vorhaben nicht ohne Probleme realisiert werden konnte. Mit solchen Problemen musste gelernt werden, umzugehen. Und wahrscheinlich wären uns auch bei bestem Bemühen Fehler unterlaufen, die hätten korrigiert werden müssen und aus denen hätte man lernen können, bevor man an eine Friedenslösung in ganz Afghanistan gegangen wäre.

aixpaix.de: Probleme auch eventuell mit Verletzungen des Waffenstillstands?

Naqibullah Shorish: Auch damit. Wenn zum Beispiel irgendwo eine Bombe explodiert wäre, hätte geklärt werden müssen, wer verantwortlich war. Die Taliban insgesamt? Einzelne Kämpfer auf eigene Rechnung? Kriminelle ohne politischen Hintergrund? Oder vielleicht auch ausländische Geheimdienste, denen eine Friedenslösung vielleicht nicht gefallen hätte. Probleme hätte es auch geben können durch eigenmächtige Aktionen von Armeekommandeuren oder einzelnen Soldaten auf Seiten der afghanischen Armee oder ISAF. Denken Sie zum Beispiel an den Amoklauf des US-Soldaten, der 16 Menschen umbrachte und jetzt in den USA vor Gericht steht. Wenn so etwas passiert, von wem auch immer zu verantworten, dann muss in der Phase eines solchen Experimentes alles getan werden, damit nicht gleich wieder der Krieg in vollem Umfang ausbricht. Sicherlich hätte es noch viele andere Fragen im Detail gegeben, aus deren Lösungsversuchen man hätte lernen können.

aixpaix.de: Könnte man heute noch an diesen Vorschlag anknüpfen?

Naqibullah Shorish: Eine Friedenslösung für Afghanistan ist immer noch möglich, aber die Uhr tickt! Ja, man kann anknüpfen, aber es ist leider sehr viel Zeit verspielt worden! Drei Jahre – wie weit hätten wir da heute sein können? Heute stehen wir ganz anders unter Zeitdruck. Da bleibt kaum noch Zeit für regionale Experimente. Heute müssen wir den Übergang in ganz Afghanistan organisieren – ohne Testerfahrungen. Diese Chance ist leider unwiederbringlich verloren.

Aber bezogen auf eine sofortige Lösung für ganz Afghanistan: Ja, eine realistische Lösung muss an die Elemente dieses Vorschlages anknüpfen: Waffenstillstand, Übergangsregierung, Aufbau gemeinsamer Sicherheitsstrukturen, Umsiedlung der Taliban-Führung nach Afghanistan.

Wichtig für uns ist, dass auch die Region an einen dauerhaften Frieden in Afghanistan glaubt und uns dabei unterstützt.

aixpaix.de: Woran ist diese gemeinsame Initiative von afghanischen und deutschen Friedensaktivisten und auch von ISAF-Offizieren und Talibanführern gescheitert?

Naqibullah Shorish: Diese Frage ist schwer zu beantworten. Ende August 2010 sagte mir einer der beteiligten deutschen Oberstleutnants, er werde nach Berlin fliegen und Verteidigungsminister zu Guttenberg informieren. Danach stand sein Urlaub an. Als er Anfang Oktober nach Kabul zurückkam, erklärte er mir unvermittelt: Die Offiziere seiner Abteilung dürften nur noch über Reintegration reden, nicht mehr über Reconciliation. Mit Reintegration war gemeint, dass Taliban gegen Geldzahlungen den Kampf einstellten und ihre Gewehre abgaben. Was wir zuvor diskutiert hatten, war Reconciliation, also auf Deutsch Versöhnung – eine ernsthafte Verhandlungslösung der Konfliktparteien.

aixpaix.de: Haben Sie eine Erklärung für den jähen Sinneswandel?

Naqibullah Shorish: Nein. Es gab keine Erklärung, man kann da nur spekulieren. Ende September 2010 hatte General Ramms den Oberbefehl über das NATO Joint Force Command abgegeben und war in den Ruhestand gegangen. Der US-Oberbefehshaber, General Petraeus hatte offenbar völlig andere Vorstellungen. Er meinte wohl, dass die Strategie, die er im Irak erprobt hatte, auch in Afghanistan greifen könnte. Das war ein unverzeihlicher Fehler! Manchmal frage ich mich aber auch, ob nicht völlig andere Überlegungen einen Einfluss auf den Abbruch der Gespräche hatten.

aixpaix.de: Welche?

Naqibullah Shorish: Der Afghanistankrieg ist nicht zuletzt ein Testfeld für neue Waffenentwicklungen, zum Beispiel für die Drohnenkriegführung. Sie wissen aus der deutschen Debatte, dass es dabei um sehr viel Geld geht. Aber das ist jetzt Spekulation. Wir müssen für eine ernsthafte Beantwortung der Frage nach den Gründen für den Abbruch der Gespräche abwarten, bis die Archive geöffnet werden.

Wir können aber für eine Friedenslösung für Afghanistan nicht so lange warten, wir müssen jetzt handeln!

aixpaix.de: Die NATO sagt, dass der Friedensprozess afghanisch geführt werden muss. Sie sagen, dass der Friedensratdazu nicht in der Lage ist. Wie soll das funktionieren?

Naqibullah Shorish: Die NATO wird sich nicht vor der Verantwortung drücken können, Friedensgespräche zu führen. Die Probleme, die die afghanischen Konfliktparteien miteinander haben, sind ja nur ein Teil des Problems. Die Probleme, die die Großmächte und die Nachbarstaaten miteinander haben und die sie in Afghanistan miteinander austragen, die können wir Afghanen nicht lösen!

Aber wir Afghanen können damit beginnen, unsere eigenen Konflikte zu beenden und eine Friedenslösung für uns Afghanen zu finden.

aixpaix.de: Wie soll die aussehen?

Naqibullah Shorish: Dazu habe ich im vergangenen Jahr meinen Shorish-Friedensplan vorgestellt, der inzwischen in den afghanischen Stämmen viel Zustimmung erfährt. Auch die Taliban haben mir versichert, dass sie zu mehr als 90 Prozent mit diesem Plan einverstanden sind. Dieser Plan basiert selbstverständlich auch auf den Erfahrungen aus den Gesprächen zwischen ISAF und Taliban. Der Kern des Plans ist die Installierung einer Übergangsregierung.

aixpaix.de: Wenn der Friedensrat die nötigen Gespräche zwischen den Konfliktparteien nicht vermitteln kann, will oder soll, wer kann dann realistisch vermitteln?

Naqibullah Shorish: Die Geschichte der Friedensschlüsse nach Bürgerkriegen in anderen Ländern hat gezeigt, dass eine neutrale Vermittlung unabdingbar ist. Diese haben zumeist sinnvollerweise ausländische Staaten übernommen, die nicht in den Konflikt verwickelt waren. Ihre Vertreter wurden von den jeweiligen Konfliktparteien als ehrliche Makler erlebt und akzeptiert. Darüber hinaus hatten diese Länder auch die finanziellen Mittel, Vertreter der Konfliktparteien zu sich oder in dritte Länder einzuladen, wo die Unterhändler aller Seiten in Sicherheit und auf Wunsch auch moderiert miteinander sprechen konnten. So etwas geht weder in Kabul noch in Quetta, wo die Talibanführung residiert.

Wenn nur Afghanen miteinander reden sollen, wie es die NATO-Staaten fordern, dann brauchen wir neutrale, von allen Konfliktparteien akzeptierte afghanische Vermittler. Das kann dann weder die Regierung, noch der von ihr bestellte "Friedensrat" sein und selbstverständlich ebenso wenig die Talibanführung oder ein von ihr eingesetztes Gremium.

aixpaix.de: Wer können solche afghanischen Vermittler sein? Die politischen Parteien in Afghanistan?

Naqibullah Shorish: Nein, sie sind zumeist selbst auf Seiten der unterschiedlichen Konfliktparteien engagiert und sie verhalten sich ansonsten, wie sich politische Parteien in der Demokratie verhalten müssen. Sie konkurrieren miteinander um die Wählergunst. Da will sich jede Partei natürlich als die allerbeste darstellen, auch auf Kosten der konkurrierenden Parteien. Das ist für einen funktionierenden demokratischen Willensbildungsprozess völlig in Ordnung, aber das hilft uns bei der Suche nach einer Friedenslösung in Afghanistan nicht wesentlich weiter.

aixpaix.de: Wer bleibt dann für die Vermittlung übrig?

Naqibullah Shorish: Wir haben in Afghanistan noch das traditionelle System der Stämme und die haben noch immer sehr viel Einfluss. In einer Gesellschaft, wo staatliche Strukturen nicht so funktionieren, wie Sie das in Deutschland kennen, ist das völlig normal. Wenn da Nachbarn Streit haben, da wird der Dorfälteste als Vermittler gefragt und bei schwierigeren Problemen müssen auch die Stammesführer anreisen. Für die gehört Vermittlung bei oftmals komplizierten Konflikten zum Tagesgeschäft.

Sie sind gerade für die Vermittlung zwischen Regierung und Taliban besonders geeignet, weil ihre Stammesangehörigen zu beiden Konfliktparteien gehören. Die einen sind im Regierungsapparat oder als Soldaten in der Armee, die anderen sind Talibankämpfer und die meisten stehen zwischen diesen Fronten.

Eine Vermittlung ist heute hin und wieder im Kleinen möglich. Ich kenne einen Ort im Bezirk Surobi (Provinz Paktika), wo Menschen aus meinem Stamm leben. Die einen sind dort als Soldaten stationiert und andere gehören zu den Taliban. Sie schießen aber nicht aufeinander, sondern trinken miteinander Tee oder Kaffee oder essen miteinander. Da funktioniert der Waffenstillstand auf kleinster Ebene.

In der Provinz Ghazni wiederum gab es in unserem Stamm keine Einigkeit. Dort hat der Stamm ein Jahr lang bewaffneten Widerstand gegen die Taliban geleistet und dort gibt es heute keinen Talib mehr. ISAF und die NATO wissen das, aber sie reden nicht darüber.

aixpaix.de: Nun gibt es in Afghanistan mehrere Stämme. Für eine Vermittlung auf nationaler Ebene müssten die sich miteinander einigen.

Naqibullah Shorish: Natürlich. Dazu sind sie auch bereit. Ich habe in den letzten Wochen mit vielen der wichtigsten Stammesführer telefoniert. Sie wollen diese Vermittlung übernehmen.

aixpaix.de: Wie soll das funktionieren?

Naqibullah Shorish (links)

Naqibullah Shorish: Da haben wir sehr viel Erfahrung. Seit der Gründung Afghanistans gab es immer wieder zu den wichtigsten Fragen des Schicksals unseres Landes Versammlungen der Stammesführer. Jirga heißt diese Form der Versammlung und als "Loya Jirga" ist sie das höchste demokratische Organ, die Verfassung gebende Versammlung. Die Stammesführer waren in der Geschichte Afghanistans immer die Garanten für die Einheit des Landes. Auch in noch so schwierigen Zeiten und bei noch so komplizierten Problemen, sie haben bei ihren Versammlungen immer kluge und realisierbare Lösungen gefunden.

Jetzt muss es eine solche Versammlung der Stammesführer geben, die in Afghanistan über eine Friedenslösung berät, die den Frieden ausruft und die eine Übergangsregierung benennt. Wir haben keine andere Wahl!

aixpaix.de: Und die derzeitige Regierung und die Taliban als die Hauptkonfliktparteien würden auf eine solche Versammlung hören?

Naqibullah Shorish: Nach den Traditionen unseres Landes ja, auch wenn das für Sie im Westen sicherlich schwer verständlich ist.

aixpaix.de: Nicht alle Nationalitäten haben Stämme und damit auch Stammesführer, die an einer solchen Versammlung teilnehmen könnten. Wird über deren Kopf hinweg entschieden?

Naqibullah Shorish: Natürlich nicht. Sie sollen ihre demokratisch legitimierten Vertreter schicken und sie werden in der Versammlung genauso akzeptiert wie Stammesführer.

aixpaix.de: Und warum hat es nicht schon längst eine solche Versammlung gegeben, die den Frieden ausruft?

Naqibullah Shorish: Es hat Anfang Mai 2008 eine solche Versammlung von ungefähr 3000 Stammesführern gegeben, die über eine Friedenslösung beraten und die sich auf diese Weise als Nationale Friedensjirga konstituiert hat. Diese Versammlung und die bald darauf einsetzende Zusammenarbeit mit der deutschen Kooperation für den Frieden hat entscheidend dazu beigetragen, dass es die Gespräche und die Möglichkeiten für eine Friedenslösung gegeben hat, von denen ich berichtet habe.

Damals hofften wir noch sehr auf eine Vermittlung durch andere Staaten und wir hatten dabei besonders große Hoffnungen auf eine deutsche Vermittlung gesetzt. Die hat die Kooperation für den Frieden, soweit es ihr möglich war, erfüllt, nicht aber die Bundesregierung. Unsere damaligen Hoffnungen wurden vom Ausland enttäuscht. Jetzt ist uns klar, dass wir mehr denn je unser Schicksal in die eigenen Hände nehmen müssen.

aixpaix.de: Und wann wird die neue Versammlung, die Jirga der Stammesführer, zusammentreten?

Naqibullah Shorish: Mehrere Tausend Stammesführer aus ganz Afghanistan nach Kabul zu transportieren, dort unterzubringen und zu verpflegen und eine geeignete Versammlungshalle anzumieten, das erfordert einen enormen finanziellen Aufwand. Da benötigen wir dringend Unterstützung!

Und internationale Unterstützung benötigen wir auch, wenn wir unser Signal für den Frieden aus Kabul gesendet haben.

Ohne internationale Unterstützung in jeder Form droht uns Afghanen der Bürgerkrieg. Das muss verhindert werden! Zuallererst brauchen wir Frieden und dann erst ausgebildete Sicherheitskräfte, die unseren Frieden verteidigen.

Der Shorish-Friedensplan


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Interview mit Naqibullah Shorish

Shorish-Plan kann Afghanistan den Frieden bringen

Der Plan von Naqibullah Shorish, dem wichtigsten Stammesführer Afghanistans, der über drei Millionen Menschen repräsentiert, ist der derzeitig einzige international von den unterschiedlichen Seiten diskutierte Friedensplan. Die Taliban-Führung um Mullah Omar hat den „Shorish-Plan“ im Grundsatz, nicht in allen Details, akzeptiert.

Zur Bedeutung des Shorish-Plans

Wortlaut des Shorish-Plans

Dossier: Der Afghanistan-Konflikt

Im Rahmen seiner Reihe Monitoring-Projekt Zivile Konfliktbearbeitung – Gewalt- und Kriegsprävention legte Prof. Dr. Andreas Buro sein Dossier vor.

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