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Gedenken an den Völkermord in Ruanda 1994

03.04.2014 – Vor 20 Jahren wurden in Ruanda innerhalb von 100 Tagen mindestens 800.000 Menschen bestialisch ermordet. Angesichts des Jahrstages des Beginns des Völkermords an den Tutsi am 6./7. April veröffentlicht die Kommission Solidarität mit Zentralafrika in Zusammenarbeit mit der 1994 als Versöhnungsinitiative in Mönchengladbach und in Belgien entstandenen pax-christi-Gruppe Twese Hamwe, eine Erklärung unter dem Titel Versöhnung und Wahrheit.

Was sind 20 Jahre nach solch einem Schrecken? fragt Heinz Rothenpieler, Sprecher der pax christi-Kommission. Im Nachkriegsdeutschland begann die eigentlich schmerzhafte Phase der Aufarbeitung der Nazi-Diktatur erst Mitte der 1960er Jahre.

In der Erklärung heißt es unter anderem: Der Versuch eines Neuanfangs in einer tief traumatisierten Gesellschaft ist in Ruanda in besonderer Weise dadurch gekennzeichnet, dass Täter und Opfer oft in den gleichen Dörfern und Stadtvierteln zusammen leben müssen. Versöhnung ist aus der Sicht von pax christi ohne Wahrheitssuche nicht möglich, und zwar in alle Richtungen. Für die Friedensarbeit in Ruanda sieht die pax christi-Kommission Solidarität mit Zentralafrika im Detmolder Bekenntnis von 1996 nach wie vor hohe Aktualität. Das Hören auf das Leiden der Anderen wird in diesem Dokument als zentrales Element auf dem Weg zur Versöhnung benannt.

Die Erklärung Versöhnung und Wahrheit der pax christi-Kommission Solidarität mit Zentralafrika folgt im Wortlaut.

Versöhnung und Wahrheit

Ein Beitrag zum Gedenken an den Genozid in Ruanda 1994 und seine Folgen

Vor 20 Jahren wurden in Ruanda innerhalb von 100 Tagen mindestens 800.000 Menschen bestialisch ermordet. Der Völkermord an den Tutsi erfüllt uns auch heute noch mit unfassbarem Entsetzen und Trauer. Im Zusammenhang mit dem Genozid standen vorher und nachher weitere Gräueltaten, denen zahlreiche Menschen zum Opfer fielen. Auch ihnen gilt unser trauerndes Gedenken. Der Rückblick auf die abgründige Tragik des Geschehens ist mit Deutungsversuchen verbunden, bei denen unterschiedliche, gar gegensätzliche Bewertungen und Einschätzungen zum Ausdruck kommen. Klar ist, dass die Zeit für abschließende Einschätzungen nach zwei Jahrzehnten noch lange nicht gekommen ist. Mit den folgenden Notizen wollen wir einen Beitrag aus Sicht von pax christi zur Einschätzung der Ereignisse und deren Aufarbeitung versuchen, indem wir einige Aspekte herausgreifen, die uns am Herzen liegen.

1. Die Opfer stehen im Mittelpunkt

Wer das Morden vor Augen hat, ist spontan geneigt, sich mit der angegriffenen Gruppe zu identifizieren. Wir mussten die bedrückende Erfahrung machen, dass wir uns deshalb manchmal über das Leid anderer Menschen hinwegsetzen. Wir möchten festhalten: Unsere Solidarität gilt den Opfern als individuellen Personen, weil sie Opfer sind – unabhängig von ihrer Gruppenzugehörigkeit. Es ist oft auf den unerklärbaren Abgrund des Bösen hingewiesen worden, der sich in skrupelloser Brutalität, im Hass, in der plötzlichen Abwendung und Vernichtung von Nachbarn, von Freunden und Verwandten zeigt. Zu diesem Abgrund gehört auch, dass Menschen zugleich Täter und Opfer sein können.

Wer pauschal Tutsi und nur Tutsi als Opfergruppe, Hutu und nur Hutu als Tätergruppe ein-ordnet, wird der Situation nicht gerecht. Der einzelne Mensch mit seinem unverwechselbaren Leben steht im Blickpunkt der Erinnerung.

2. Direkte Verantwortung ist das eine, aber auch die Hintergründe sind zu beachten

Auf die landläufige Frage Wie war so etwas möglich? geht der Blick auf die Drahtzieher und auf die Ausführenden. Politischer Wille zur Ausrottung verband sich mit der Verführbarkeit der Massen. Wir fragen weiter: Was machte die Massen verführbar? Wie ist angesichts des kollektiven Wahns individuelle Verantwortung zu thematisieren? Wir stoßen auf geopolitische Interessen im Weltumbruch nach 1989 (z.B.: Ruanda wurde mit Hilfe Frankreichs aufgerüstet), auf historische Prägungen (z.B.: strenge gesellschaftliche Hierarchisierung von der Vor-Kolonialzeit bis zum Habyarimana-Regime), auf Angst (z.B.: Vertreibung und Angst um Leib und Leben im Bürgerkrieg seit 1990). Auch irrationale Ängste und der blinde Glaube an die Wahrheit dessen, was das Radio verkündet, waren Triebfedern. Die Bereitschaft, sich Befehlen zu fügen, stammt vermutlich aus alten Zeiten, wurde aber von den Kolonisatoren ausgenutzt und vertieft und auch von den Kirchen gefördert.

3. Die Rolle der katholischen Kirche

Die zentrale Kritik an der katholischen Kirche lautet, dass sie es nicht verstanden hat, sich aus ihrer kolonialen Vergangenheit zu befreien. Sie hat sich zum einen auf Bereiche beschränkt, die ihr obrigkeitlich zugewiesen wurde: innerkirchliche Themen, persönliche Lebensführung im Glauben, Gebet und Besinnung. Durch die erwähnte Bereitschaft zum absoluten Gehorsam, aber auch durch die Anpassung an die gesellschaftliche Hierarchie und die enge Anbindung an die Machthaber fehlte der Kirche häufig die Distanz, welche die Voraussetzung für Widerspruch und widerständiges Handeln hätte sein können. Es gab in der katholischen Kirche zwar auch eine starke Strömung zu Integration und Ausgleich in der Gesellschaft, ja sogar prominente Beteiligung an einer ökumenischen Friedensbewegung unter Mitwirkung von pax christi, die das Jahr 1994 zu Jahresbeginn im Angesicht der sich immer weiter radikalisierenden Hutu-Milizen sogar noch zum Jahr des Friedens ausgerufen hatte. Diese konnte aber die Eskalation nicht aufhalten und war auch nicht stark genug, die großen Kirchen zu einem klaren Zeugnis im Genozid vorzubereiten. Nicht nur christliche Laien, sondern auch Priester und Ordensleute beteiligten sich aktiv am Genozid. Neben Tätern gab es innerhalb der Kirchen aber auch solche, die Opfer versteckt haben, mutige Menschen im Widerstand, viele Opfer von Massaker und Märtyrer der Gerechtigkeit. Mindestens 300 Geistliche und Ordensangehörige fielen den Massakern zum Opfer. In den folgenden Jahren mussten sich die großen Kirchen der Aufarbeitung ihrer Rolle vor, während und nach dem Genozid stellen und nach Konsequenzen unter anderem für die eigene Pastoral fragen. Diese Aufgabe ist noch lange nicht bewältigt. Abgesehen davon müssen sie ihre gesellschaftliche Aufgabe wahrnehmen und im wörtlichen wie im übertragenen Sinne Räume für die individuelle Traumaarbeit bereitstellen, in denen langfristig echte Versöhnung wachsen kann.

4. Ausgangspunkt der Versöhnung: Das Leiden des andern hören

Der Versuch eines Neuanfangs in einer tief traumatisierten Gesellschaft ist in Ruanda in besonderer Weise dadurch gekennzeichnet, dass Täter und Opfer oft in den gleichen Dörfer und Stadtvierteln zusammen leben müssen. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, Kirche und Staat haben schon kurz nach den Ereignissen angefangen, aktiv Traumaverarbeitung und Versöhnung zu bewerkstelligen. Uns scheint Versöhnung ohne Wahrheitssuche nicht möglich, und zwar in alle Richtungen. Wir halten den Ansatz des sogenannten Detmolder Bekenntnisses von 1996 nach wie vor für richtungsweisend. Dessen Ansatz beruht darauf, dass die zu einer Reflexion in Detmold versammelten Menschen aus der Sicht ihrer Volksgruppe, Tutsi, Hutu und Europäer (unter dem Aspekt, als Kolonialmächte in die Gesellschaft prägend eingegriffen zu haben) zunächst reden durften ohne Widerspruch, dass einer dem andern zuhörte und dass vor allem jeder das Recht hatte, sein Leid, das er erlebt hatte, unkommentiert zu berichten. Das führte zu manchen Perspektivwechseln und am Ende zu einem Bekenntnis, in dem jeder der Anwesenden für das Leid um Verzeihung bitten konnte, das von seiner Volksgruppe aus den andern zugefügt wurde. Das Detmolder Bekenntnis sah sich mit vielerlei Anfragen und mit Widerspruch konfrontiert. Unter anderem wurde von ruandischer Seite erwidert, hier würden Täter und Opfer nicht als solche benannt. Wir möchten festhalten: Der Wahrheit kommen wir nur näher, wenn allen Beteiligten erlaubt ist, ihre Sicht einzubringen. Und die seelische Not kann nur verringert werden, wenn alle eine Gelegenheit erhalten, ihren Schmerz auszusprechen und ihrer Toten zu gedenken.

5. Nicht vor 20 Jahren sondern seit 20 Jahren

Das Gedenken des Völkermordes soll den Blick nicht punktuell auf das Geschehen vor 20 Jahren lenken, sondern auch den Zeitraum seit 20 Jahren betrachten. Die Ideologie der Rwandicité, die sich in dem Slogan ausdrückt Ich bin Ruander, hat den strukturellen Konflikt zwischen verschiedenen Volksgruppen oberflächlich ausgeschaltet. Unter der Oberfläche aber bestehen die Spannungen weiter. Vordergründig hat die neue Zielsetzung zu Sicherheit, funktionierenden staatlichen Institutionen, zu eindeutig positiven Entwicklungen im Bildungs- und Gesundheitswesen und auch zu punktuellem Wohlstand geführt. Wir teilen aber den Optimismus der ruandischen Regierung nicht, dass die Probleme verschwinden, wenn nur erst ein hinlänglicher wirtschaftlicher Fortschritt erreicht wäre. Wir halten das neoliberale Modell nicht geeignet zur Heilung einer Gesellschaft. Wir denken auch an die verschiedenen Formen der Unterdrückung, die der Beendigung des Genozids und der Ablösung des radikalen Hutu-Regimes von 1994 folgte. Dabei denken wir vor allem an die Verletzung der Menschenrechte, die Ausschaltung der Opposition, die anhaltende Einschränkung der Meinungsfreiheit im Lande wie auch an die Gewalttaten, die im Namen oder mit Unterstützung Ruandas im Ausland begangen wurden. Namentlich zu nennen ist das jahrelange unsägliche Leiden der kongolesischen Bevölkerung vor allem in den Kivu-Provinzen. Im Sinne des Detmolder Bekenntnisses stellen wir fest, dass wir unserer eigenen kolonialen Vergangenheit begegnen, wenn der Rassismus immer noch in der Region wirksam ist und zu Machtzwecken proklamiert wird. Vor allem können wir die Augen nicht davor verschließen, dass hinter dem Krieg im Osten des Kongo letztlich der Griff der Industrienationen nach Bodenschätzen stand. Die internationalen Akteure haben die realen und vorgeblich ethnischen Spannungen immer wieder skrupellos zu ihrem Profit genutzt. Dieses Muster setzt sich leider auch in anderen Teilen des afrikanischen Kontinentes fort. Unsere eigene Verstrickung in die Geschehnisse liegt aber auch deswegen auf der Hand, weil die mafiös abgebauten und gehandelten Rohstoffe über die Weltmärkte meist bei Endkonsumenten in den reichen Ländern landen. Die Schmuggelwege von kongolesischen Rohstoffen zu den Weltmärkten laufen weiterhin zum Teil über Kigali. Wenn der Wunsch Nie wieder! in Erfüllung gehen soll, bleiben kritische Aufmerksamkeit, Aufklärung und solidarisches Engagement hier ebenso geboten wie in Ruanda.

pax christi Kommission Solidarität mit dem zentralen Afrika in Zusammenarbeit mit der pax christi-Gruppe Twese Hamwe.


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