Otmar Steinbicker

Die jüngsten Forderungen nach einer atomaren Supermacht Europa sind hochgefährlich

Aachener Nachrichten, 10.02.2017

Otmar Steinbicker, Foto: Beate Knappe

Dass man sich in Europa angesichts der Unwägbarkeiten der neuen US-Administration Sorgen um die eigene Sicherheit macht, ist verständlich. Doch wie kann diese Sicherheit hergestellt werden?

Seit einiger Zeit werden Stimmen laut, Europa müsse über eigene Atomwaffen verfügen. Als erster warf FAZ-Herausgeber Berthold Kohler schon im November vergangenen Jahres „die Frage einer eigenen nuklearen Abschreckungsfähigkeit“ auf, „welche die Zweifel an Amerikas Garantien ausgleichen könnte“. Am Montag zog der mächtiger Parteichef der nationalkonservativen polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit Jaroslaw Kaczynski nach. Er begrüße die Idee einer atomaren „Supermacht“, erklärte er und präzisierte: „Eine eigene Atommacht müsste mit Russland mithalten können.“

Dahinter steckt die alte Logik der atomaren Abschreckung. Wenn wir Russland glaubhaft mit der atomaren Vernichtung drohen, dann wird Russland uns nicht angreifen und dann wird es auch keinen Atomkrieg geben, glauben die Vertreter dieser Logik.

Aber haben sie damit Recht? Auf den ersten Blick mag es so aussehen. Seit den beiden Atombomben, die die USA im August 1945 über den beiden japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki abwarfen, wurden keine Atomwaffen mehr in Kriegen eingesetzt. Während des Kalten Krieges galt die Devise: Wer als erster schießt, stirbt als zweiter. Damit galt es als ausgeschlossen, dass bei einer gesicherten Zweitschlagsfähigkeit der Gegenseite ein atomarer Erstschlag ausgeführt würde.

Was aber in dieser Abschreckungslogik keine Berücksichtigung findet, ist die Möglichkeit der Auslösung eines Atomkrieges nicht durch bewusstes Kalkül, sondern durch Zufall, etwa durch einen Fehlalarm. Wer in die Geschichte der atomaren Rüstung schaut, findet mehrere erschreckende Beispiele für solche Fehlalarme.

So zeigten am Morgen des 9. Novembers 1979 die Computerbildschirme des US-Luftverteidigungskommandos Norad, dass die UdSSR soeben 250 Atomraketen auf die USA abgefeuert hatten. Als der Nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski vom Norad eine Bestätigung der Meldung verlangte, waren es bereits 2200 anfliegende Raketen. Unmittelbar bevor Brzezinski dem damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter einen atomaren „Gegenschlag“ empfehlen konnte, meldete Norad: Es war ein Fehlalarm. Jemand hatte Daten einer militärischen Übung in einen Warnsystem-Computer geladen. (1)

Computer entscheiden

Am 26. September1983 passierte Ähnliches in der sowjetischen Kommandozentrale der Satellitenüberwachung Serpuchowo-15. Ein Überwachungssatellit meldete den Start einer Minuteman-Rakete an der Ostküste der USA in Richtung UdSSR und bald darauf weitere Raketenstarts. Später stellte sich heraus: Es war kein menschliches Versagen wie bei Norad, sondern der sowjetische Satellit Kosmos 1382 hatte eine starke Reflextion von Sonnenstrahlen auf einer Wolkenschicht als Startblitz von Interkontinentalraketen interpretiert. (2)

In beiden Fällen betrug die Vorwarnzeit zwischen erstem Alarm und möglichem Einschlag der Raketen etwa 20 Minuten. Als 1983 die Stationierung von Pershing-2-Raketen in der Bundesrepublik beschlossen wurde, ging es um eine Flugzeit bis zum Einschlag in Moskau von nur 4,5 Minuten. Diejenigen, die damals der Stationierung zustimmten, mussten von der absoluten Unfehlbarkeit sowjetischer Alarm- und Computersysteme überzeugt gewesen sein. Glücklicherweise einigten sich die USA und die UdSSR 1987 darauf, die Mittelstreckenraketen mit entsprechend kurzer Vorwarnzeit zu verbieten und zu verschrotten.

Schon damals warnten Experten davor, dass bei immer kürzerer Vorwarnzeiten letztlich Computersysteme nicht nur die Warnmeldung, sondern auch die Entscheidung übernehmen müssten, um den vermeintlichen „Gegenschlag“ zeitgerecht eigenständig, also automatisch auszuführen. Sollten eines Tages auf Russland gerichtete Atomraketen in Ostpolen oder Litauen stationiert werden, dann kommen wir diesem Szenario nahe.

Wer schon einmal an einem Computer gearbeitet hat, weiß um dessen Fehlerhaftigkeit. Wer Computern die Entscheidung über einen Atomkrieg überlässt, braucht niemand anderen mehr für die Auslösung eines Atomkrieges.

(1) http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14326622.html

(2) http://www.zeit.de/2008/39/A-Petrow

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Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier


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