Otmar Steinbicker
Ist die NATO im großen Luftkrieg noch angriffsfähig?
Überlegungen im Vorfeld einer NATO-Konferenz über Luftwaffenoperationen / 09.08.2016
Befinden wir uns aktuell womöglich in einer Situation in der derzeit und auf absehbare Zeit ein Luftkrieg und damit letztlich auch ein großer Krieg zwischen den militärischen Großmächten nicht mit Aussicht auf Erfolg geführt werden kann? Ein Diskussionsbeitrag in einem NATO-Reader wirft diese Frage auf und damit auch die Frage, wie mit einer solchen Problematik umzugehen ist. Im historischen Rückblick bieten sich unterschiedliche Lösungswege an. Damit dürfte das Thema nicht nur für Militärs spannend sein.
Der Generalleutnant der Luftwaffe der Bundeswehr und Kommandeur des Zentrums Luftoperationen der Luftwaffe in Kalkar, Joachim Wundrak, stellt in einem Reader in Vorbereitung einer NATO-Konferenz über Luftwaffenoperationen im Oktober in Essen eine bemerkenswerte These auf: Für einen erfolgreichen Luftkrieg großer Dimension sind die derzeitigen Waffensysteme der NATO nicht geeignet. Entweder sind sie nicht weitreichend genug oder sie sind zu leicht mit modernen Abwehrsystemen zu besiegen.
„What concerns me about A2/RD is that we may not have superior technology available to us – stealth and precision weapons may not be enough, even when coupled with the most modern TTPs we can employ. The A2/RD ‘bubble’ is so large that our current long-range weapons are simply not long-range enough or are too easily defeated by modern systems. Of particular note, the threat is not static – it is persistently adapting to match our capabilities. We cannot remain complacent and assume that our capabilities will remain effective against the changing threat.“
Ein militärisches Dilemma
Das vom General beschriebene Dilemma: Wenn ein Angriff absehbar keine Aussicht auf Erfolg hat, dann macht er auch keinen Sinn und wenn das Problem für den Luftkrieg gilt, der Kernbestandteil jedes größeren Kriegsszenario wäre, dann macht letztlich der ganze Angriffskrieg keinen Sinn. Offenbar gilt dieses Problem auch für potenzielle Gegner, jedenfalls für größere Militärmächte außerhalb der NATO. Wäre es anders, hätte der General mit Sicherheit auf eine solch dramatische Situation hingewiesen, dass andere mit Aussicht auf Erfolg angreifen könnten, die NATO aber nicht.
Die aus Sicht des Generals bedauernswerte Lage, keine Angriffsoperationen in einem größeren Luftkrieg mit Aussicht auf Erfolg durchführen zu können, ist für Kriegsgegner allerdings alles andere als bedauernswert. Sie bannt zwar nicht jegliche Kriegsgefahr – zumal nicht gegen mutmaßlich schwächere Gegner – aber sie macht zumindest einen geplanten Angriffskrieg zwischen den großen Militärmächten sinnlos. Das dürften allerdings auch jene Weltuntergangspropheten bedauern, die von geplanten Angriffskriegen wahlweise von Seiten der NATO oder Russlands schwadronieren.
Dass Generalleutnant Wundrak nach einem Ausweg aus dem von ihm gesehenen Dilemma sucht, dürfte nicht verwundern. Aber so einfach ist ein solcher Ausweg nicht zu finden. Aus seiner Sicht hat die NATO es versäumt, beizeiten die Rüstungsindustrie aufzufordern, geeignete Angriffswaffen zu erforschen, zu entwickeln und zu produzieren.
„At the core of the problem is NATO’s failure to continue to develop and acquire the technology required to counter modern IADS and related systems. Of course, industry is primarily charged with the development of such systems, but we as NATO’s militaries have not asked them to give us solutions to this problem in recent years. Without a demand signal, industry will not invest in the necessary systems development. Without investment in research and development, the technologies we need will not be available to us.“
Auf dem Weg in einen neuen Rüstungswettlauf?
Wie auch immer, wenn es zutrifft, dass derzeit noch nicht einmal geforscht wird, dann dürften nach bisherigen einschlägigen Erfahrungen schnell mal zwanzig Jahre ins Land gehen, bis die Luftwaffe über solche Waffen verfügen kann. Wieweit zu diesem Zeitpunkt potenzielle Gegner mit ihrer Forschung Entwicklung und Produktion von Angriffswaffen oder verbesserten Abwehrsysteme wären, bliebe dabei abzuwarten. Wir kennen aus vergangenen Jahrzehnten solche Rüstungswettläufe zwischen Ost und West, zwischen NATO und Warschauer Pakt. Sie führten letztlich nicht aus dem Patt, kosteten aber enorm viel Geld.
Dass Generalleutnant Wundrak mit seiner Ansicht nicht allein dasteht, zeigt eine Meldung aus dem US-Magazin „The Diplomat“ vom 10.2.2016. Danach hat das Pentagon bereits für das Haushaltsjahr 2017 die Summe von 18 Milliarden Dollar für Forschung und Entwicklung genau zu dieser Problematik beantragt.
Erfahrung mit Rüstungsbegrenzung
Nun könnte man sich fürs erste zurücklehnen und in aller Ruhe abwarten, was denn aus der Forschung wird, die fehlenden Waffen für eine Angriffskriegs-Option zu entwickeln. Klüger wäre jedoch eine anderer Strategie. Vor allem in den 1970er Jahren gab es angesichts des Patts zwischen Ost und West die Tendenz Rüstungsbegrenzungsabkommen zu vereinbaren. Das war bei weitem noch keine Abrüstung, aber das war zumindest der Verzicht auf einen Rüstungswettlauf in definierten Bereichen.
Eckstein dieser Rüstungsbegrenzungsabkommen war damals der ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (Anti-Ballistic Missiles, ABM) zwischen den USA und der UdSSR aus dem Jahr 1972. In diesem Abkommen wurden verboten:
• der Aufbau eines landesweiten ABM-Netzes (Art. 1)
• die Entwicklung, Erprobung und Aufstellung weiterer see-, luft- oder weltraumgestützter und landbeweglicher ABM-Systeme (Art. 5,1)
• die Aufstellung von Frühwarn-Radars (Art. 6,b)
• die Weitergabe von ABM-Technik an andere Staaten (Art. 9)
Zugelassen wurden:
• anfangs zwei ABM-Stellungen – später reduziert auf eine – mit 100 Abschussvorrichtungen
• die dazugehörigen Radaranlagen
• die ABM-Stellung durfte entweder zum Schutz einer Abschuss-Anlage für Interkontinentalraketen oder der Hauptstadt eingesetzt werden (in einem Radius von 150 Kilometern) (Art. 3)
• die Modernisierung und der Ersatz der eingesetzten Anlagen (Art. 7)
Mit diesem Abkommen wurde ausdrücklich die gegenseitige Verwundbarkeit in einem Atomkrieg festgeschrieben. Wer auch immer mit Atomwaffen angriff, musste mit Sicherheit davon ausgehen, einen vernichtenden Gegenschlag zu erleiden. Dieses wichtige Abkommen wurde von der US-Regierung unter Präsident George W. Bush 2002 gekündigt.
Wenn Generalleutnant Wundrak das derzeitige Problem richtig beschrieben hat, dass es Abwehrsysteme sind, die den Erfolg von Luftangriffen unmöglich machen, dann wäre ein Abkommen denkbar, dass diese Abwehrsysteme beibehält und umgekehrt Waffen verbietet, die diese Abwehrsysteme überwinden könnten. Dass solche Abkommen möglich und ihre Einhaltung auch verifizierbar ist, zeigt die Erfahrung vergangener Jahrzehnte.
Die Idee einer „Strukturellen Nichtangriffsfähgkeit“
1988, unmittelbar vor dem Ende des Kalten Krieges, überlegten Soldaten der Bundeswehr und der DDR-Armee NVA gemeinsam, ob es zur Vermeidung eines heißen Krieges zwischen Ost und West möglich sei, eine „Strukturelle Nichtangriffsfähgkeit“ zwischen den beiden Militärblöcken zu erreichen. Sie verstanden darunter eine Ausrüstung ausschließlich mit Waffensystemen, die zur Verteidigung, nicht aber zum Angriff tauglich wären. Das hätte beiden Seiten eine militärische Sicherheit gegeben, für sich und auch im Gegenüber. Der jeweils potenzielle Gegner wäre damit nicht zum Angriff fähig. Die größte Problematik bestand für die Protagonisten dieser Überlegung allerdings darin, dass die meisten Waffensysteme Dual-use-Systeme waren und sind, die sich sowohl für die Verteidigung als auch für den Angriff eignen.
Angesichts der derzeitigen Situation politischer und auch militärischer Konfrontation wäre es sinnvoll, die alte Fragestellung nach Möglichkeiten einer „Strukturellen Nichtangriffsfähgkeit“ zum Thema einer Konferenz militärischer Fachleute zu machen. Die Analyse von Generalleutnant Wundrak bietet dafür durchaus einen Ansatzpunkt. Den anderen Ansatzpunkt bietet die Erfahrung von 1988: Solche Überlegungen sollten nicht allein von NATO-Militärs sondern unter Teilnahme auch von Militärs potenzieller Gegner gemeinsam angestellt werden. Dann ließen sich womöglich nicht nur Kriege, sondern auch teure Rüstungswettläufe vermeiden.
Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier