Otmar Steinbicker
Wir können uns die Rüstung nicht mehr leisten
Aachener Nachrichten, 07.12.2019
Den Paukenschlag hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 14 Tage vor dem Londoner Gipfeltreffen gesetzt, als er der Nato den „Hirntod“ attestierte mit dem Ziel, eine Strategiedebatte in dem in die Jahre gekommenen Bündnis auszulösen. Eine solche Debatte gab es während des Gipfels nicht, wohl aber so viel Streit wie nie zuvor, auch wenn frühere Treffen selten ein Hort von Eintracht waren.
Selbstverständlich einigte man sich auf eine Abschlusserklärung, in der dann nicht viel sonderlich Neues stand. Betont wurde, dass der Kernartikel des Nato-Vertrages, die gegenseitige Beistandspflicht, auch weiterhin gelte und dass man auch weiterhin auf Atomwaffen setze. Neu und zugleich problematisch ist, dass der wachsende Einfluss und die internationale Politik Chinas als ein nicht näher definiertes Aufgabenfeld für die Allianz gesehen wird. Die Betonung gemeinsamer Werte wie Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Abschlusserklärung klingt zugleich höhnisch in Anwesenheit des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, dessen Truppen gemeinsam mit Banden des IS gegen kurdische Kämpfer in Nordsyrien vorgehen, die noch bis vor Kurzem als Verbündete der USA betrachtet wurden. Eine Strategie sieht anders aus.
Als die Nato vor 70 Jahren gegründet wurde, war sie ein Produkt des Kalten Krieges und ihre Strategie bestand in der Eindämmung vermeintlichen sowjetischen und kommunistischen Einflusses in Europa und der Welt. Dieses Thema hatte sich vor 30 Jahren mit dem Zusammenbruch der DDR und des Warschauer Paktes erledigt. Damit eröffnete sich die einzigartige Chance, anstelle der verfeindeten Militärblöcke ein kollektives Sicherheitssystem in Europa zu installieren, das aufbauend auf den gemeinsamen konstruktiven Erfahrungen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) wirkungsvolle nicht-militärische Konfliktlösungsmöglichkeiten schaffen konnte.
Am 21. November 1990 verabschiedete die Sondergipfelkonferenz der 32 KSZE-Staaten die „Charta von Paris“. In deren Präambel heißt es: „Wir, die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, sind in einer Zeit tiefgreifenden Wandels und historischer Erwartungen in Paris zusammengetreten. Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlussakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an.“
Ausdehnung nach Osten
Das Ende der Ost-West-Konfrontation ermöglichte Anfang der 90er Jahre die Beendigung von Stellvertreterkriegen, trug zum friedlichen Ende des südafrikanischen Apartheidssystems bei und eröffnete mit den Oslo-Verträgen zumindest eine Perspektive für eine Lösung des Nahost-Konfliktes.
Im Gegensatz zum Warschauer Pakt wurde die Nato aber nach 1990 nicht aufgelöst, sondern erheblich nach Osten ausgedehnt, was zu neuen Spannungen mit Russland beitrug, die inzwischen wieder Konfrontationscharakter tragen.
Wenn heute neu über strategische Fragen diskutiert werden soll, dann gilt es zuallererst, sorgfältig die Bedrohungen zu analysieren, vor denen die Welt steht. Da stehen dann die Folgen des Klimawandels und die Gefahren durch ein neues ungezügeltes Wettrüsten bei Atomwaffen ganz oben. Beide Aspekte können die Weiterexistenz der Menschheit gefährden. Hier besteht enormer Handlungsbedarf!
Wollte man das atomare Wettrüsten beenden oder diese Waffen ganz abschaffen, so ließen sich enorme Gelder einsparen. Diese werden dringend benötigt, um jetzt schnell die Investitionen zu tätigen, die dringend nötig sind, um dem Klimawandel zu begegnen. Darüber hinaus ist zur Lösung dieser Menschheitsaufgabe auch eine weitestgehende Abrüstung aller Staaten unumgänglich. Wir können uns die Rüstung nicht mehr leisten.
Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier