Robert Zion

Ein „Westfälischer Frieden“ für Arabien

Vom Krieg im November und dessen Ende / 17.11.2015

Robert Zion

Jetzt, nach den furchtbaren terroristischen Mordanschlägen von Paris (und Beirut) ist also medial breit vom „Krieg“ die Rede, vom „dritten Weltkrieg“, vom „totalen Krieg“ gar.

Man ist erinnert an die Worte und Taten von Bush jr., Rumsfeld, Perle, Cheney, die einen „Krieg gegen den Terror“ ausriefen, um, so George W. Bush jr. in der Einführungsrede zu seiner zweiten Amtszeit, „das Böse aus der Welt zu entfernen“.

Wir wissen heute nur allzu gut, dass bereits Krieg oder Bürgerkrieg herrscht: in Afghanistan, Irak, Syrien, Jemen, Libyen, dass ganze Länder und Regionen destabilisiert wurden, Europa einen gewaltigen Flüchtlingszustrom erlebt.

Wir wissen auch, dass sich mittlerweile mehrere Konfliktlinien dabei überlagern: der schiitisch-sunnitische Konflikt, ethnisch-nationale Konflikte wie der um die Kurdenfrage, ein Hegemonie- und Stellvertreterkampf der Regionalmächte Türkei, Saudi Arabien und Iran, ein überlagernder geopolitische Konflikt zwischen den USA und Russland und deren Verbündeten. Hinzu kommen internationale mafiöse und oligarchische Strukturen um Öl-, Drogen- und Waffenhandel. Zwischen den Konfliktlinien und in einem entstehenden Vakuum hat sich überdies eine neue Kriegspartei herausgebildet: der IS.

Vom Hindukusch bis zum Maghreb erleben wir also seit Jahren ein Kriegsszenario, bei dem man sich nun fragen muss, welche neue Qualität und Quantität des Krieges jetzt eigentlich ausgerufen werden soll. Erinnern wir uns als Europäer an unsere kriegerische Geschichte und an einen ähnlichen, wenn auch nicht gänzlich vergleichbaren jahrzehntelangen Krieg, den Dreißigjährigen Krieg, so können wir sagen, dass dieser nicht durch das Hinzufügen einer neuen Qualität oder Quantität sein Ende fand, sondern durch schlichtes Ausbluten und Erschöpfung, dass sich am Ende alle weltlichen und religiösen Konfliktparteien auf zivilisierte Regeln des Umgangs untereinander einigten („Westfälischer Frieden“ von Münster und Osnabrück).

Warlords und religiöse Fanatiker, sich abwechselnd einmischende Hegemonialmächte, eine sich selbst nährende Kriegsökonomie, eine schier unvorstellbare Barbarei in der Kriegsführung und die Vernichtung und Entvölkerung ganzer Städte und Landstriche – diese historische Erfahrung von uns Europäern aus dem siebzehnten Jahrhundert sollte uns heute daran erinnern, dass eine andere Differenz aufgemacht werden muss, als die zwischen eigenen „Werten“ und dem anderen „Bösen“: die zwischen Zivilisation und Barbarei.

Denn heute droht wieder ein Prozeß der Dezivilisation. Der erste Schritt zur Dezivilisierung ist der, einen Krieg führen zu wollen, der nicht zu gewinnen ist, denn solche Kriege sind naturgemäß auf Dauer gestellt. Hieraus entsteht die sich selbst nährende Kriegsökonomie. Der zweite ist das Aussetzen von internationalen Regeln wie der des Völkerrechts (auch des humanitären), der Menschen- und Bürgerrechte. Hieraus entsteht ein Rückfall in einen Naturrechtszustand, eine Art Hobbes'sche Hölle des Kampfes aller gegen alle. Der dritte ist die Privatisierung oder Teilprivatisierung des Krieges, die ihn wiederum ökonomisch nährt und ab einem gewissen überschrittenen Punkt nicht mehr vom organisierten Verbrechen unterscheidbar macht. Der vierte ist das massenhafte Töten der Zivilbevölkerung. Hieraus entsteht der ultimative Zivilisationsbruch, nennen wir ihn ruhig „Holocaust“.

Einen umfassenden Befriedungsprozess für die Region einleiten, eine politische Lösung formulieren Es wird jetzt im Grunde nur noch einen Weg, den begonnen Zivilisationsbruch zu beenden, die gemeinsame Suche nach einem tertium comparationis, nach einem allen gemeinsamen dritten, höherrangigen Gut als den jeweiligen augenblicklichen Interessenstandpunkten. Es zeichnet sich immer mehr ab, dass dieses höherrangige Gut nur darin bestehen kann, dass die Entstehungsbedingungen und der Nährboden der Parteien, die den Krieg um des Krieges Willen brauchen – des IS und der ökonomischen Kriegsprofiteure –, gemeinsam beseitigt werden.

Dazu müssen sich zunächst die geopolitischen Akteure einigen, dass die multipolare Weltordnung, die nach der bipolaren des Kalten Krieges (und des vorübergehenden Drangs des Westens nach einer unipolaren nach 2001) im Entstehen begriffen ist, tatsächlich friedlich gestaltet werden muss. Zielpunkt kann dabei nur die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit der internationalen Staatengemeinschaft auf der Ebene des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sein. Vor allem Europa sollte hierfür eine Stimme sein und die Initiative ergreifen. Erst hieraus wird sich ein Eindämmen der Regionalmächte Türkei, Iran und Saudi Arabien und ihrer Stellvertreterkriege ergeben können. Eine territoriale Neuordnung der Region im Rahmen einer Friedens- und Sicherheitskonferenz unter Beteiligung der geopolitischen und regionalen Mächte ist daher unvermeidlich geworden.

Erst mit solch einem politischen Ziel, das eine Balance of Powers in der Region sowie stark föderalisierte Staatlichkeit(en) mit religiösen und ethnischen Mitbestimmungsgarantien anstreben sollte, kann über den Erfolg entsprechender gemeinsamer militärische Maßnahmen gegen den IS und die Kriegsprofiteure verhandelt werden. Es braucht jetzt als Modell der Hoffnung für abermillionen Menschen in der Region vor allem andere Staatsgründungsprojekte als den des IS. Nur dadurch wird dem IS sein ideologischer Nährboden entzogen werden können. Letzterer muss vor allem koordiniert vom Zustrom an Geld, Waffen und Kämpfern abgeschnitten werden. Solch ein Prozess, ein "Westfälischer Frieden" für Arabien, wird voraussichtlich Jahre dauern, aber er muss jetzt begonnen werden. Und nur in solch einem politischen Prozess macht letzten Endes die Diskussion über neue militärische Maßnahmen Sinn. Erst mit einem dezidiert politischen Ziel kann folglich über eine vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierte internationale Schutztruppe zur Schaffung von Korridoren, Sicherheitszonen und zur Eindämmung des IS, die dann auch freilich robust nach Kapitel VII der UN-Charta mandatiert werden müsste, nachgedacht werden.

Weil dieser Krieg, der in Wirklichkeit eine Verschränkung mehrerer Kriege ist, von niemandem gewonnen werden kann und folglich ein weiterer Prozess der Dezivilisation zu erwarten wäre.


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